Wieder mal konnten Regierung und Mehrheit nicht verhindern, dass die CSV den Anschein wecken konnte, nur sie habe einen Covid-Plan

„Den Taux ass erofgaang!“

d'Lëtzebuerger Land du 15.01.2021

Bevor Claude Wiseler zu sprechen beginnt, zieht er die beiden langstieligen Mikrofone am Rednerpult zurecht. Das tun auch andere bei Kammersitzungen im Cercle municipal der Hauptstadt, bei Wiseler aber wirkt es wie Teil einer Choreografie. Er scheint damit auch seine Gedanken zu sammeln, ehe er den Blick langsam über die Runde der auf Abstand sitzenden Abgeordneten schweifen lässt. So viel Zeit kann er sich nehmen, denn keine Fraktion darf so lange reden wie die der CSV, weil sie die meisten Kammersitze hat. Und wieder einmal geht es um Corona, das Thema, bei dem der im Wahlkampf 2018 glücklose Spitzenkandidat jene Rolle spielen kann, die damals nicht verfing: die des Überbringers der Botschaft Mir hunn e Plang fir Lëtzebuerg.

Seit vergangenem Sommer versucht die CSV zu zeigen, dass die Gegenseite keinen zur Seuche hat. Während Fraktionspräsidentin Martine Hansen knackige Radio- und TV-Interviews gibt, hält Studienrat Wiseler gut informierte Reden im Parlament und hat sich über die Monate rhetorisch geschärft. Also schöpft er am Freitag, dem 8. Januar, erneut die Redezeit seiner Fraktion voll aus. Erklärt, die CSV kenne den „richtigen Weg“, während die Regierung den Rat ihrer Experten ignoriere, die geschrieben hatten, nach den am 24. Dezember beschlossenen verschärften Einschränkungen brauche man 40 Tage Abstand, um einschätzen zu können, was das gebracht habe.

„Der Conseil supérieur pour maladies infectieuses sagt, wir sollten die Maßnahmen noch mindestens zwei Wochen beibehalten“, zitiert Wiseler ein weiteres Expertengremium. Und sagt, „wir verstehen die Regierung nicht“, weil sie „heute die Maßnahmen nach nur zehn Tagen ersatzlos abschafft“. Vermutlich kann er davon ausgehen, dass rund die Hälfte der Bevölkerung sie ebenfalls nicht versteht: Bei der letzten Politmonitor-Umfrage hielten 46 Prozent die damals geltenden Maßnahmen für „genau richtig“, 41 Prozent für „nicht streng genug“, neun Prozent für „zu streng“, vier Prozent antworteten nicht.

Abgesehen von jedem dramaturgischen Kalkül trifft die CSV einen wunden Punkt im Seuchen-Management der Regierung. Die kann einerseits nicht wissen, wie es weitergeht – ob die während zehn Tagen verschärften Maßnahmen tatsächlich mehrheitlich befolgt wurden, ob nicht vielleicht viele Leute verreist waren und sich dabei ansteckten. Die Folgen werden sich erst allmählich zeigen. Ehe Sars-CoV-2 zu Covid-19 führt, können bis zu 14 Tage Inkubationszeit vergehen.

Andererseits vertritt die Regierung ihre Corona-Politik gegenüber der Öffentlichkeit noch nicht grundsätzlich anders als im Notstand zwischen März und Juni. Wobei natürlich immer noch eine sanitäre Krise herrscht, im Ausland auch. LSAP-Fraktionspräsident Georges Engel rechnet vor, Luxemburg liege „mit dem Strengegrad der Einschränkungen über Frankreich und Belgien und knapp unter Deutschland“. So sei es in Frankreich erlaubt, privat sechs Gäste zu empfangen, in Luxemburg weiterhin nur zwei. In Deutschland nur einen Gast, doch über die Weihnachtsfeiertage bis zu fünf. „Was Claude Wiseler eine Riesenlockerung nennt, ist eine Lockerung extrem strenger Maßnahmen!“, ruft Engel in den Saal.

Vergleiche mit den viel größeren Nachbarländern sind schwierig, weil dort die Situation von Region zu Region sehr unterschiedlich sein kann, aber das Beharren von Regierung und Mehrheit auf einem „eigenen Weg“ ist gegenüber den Nachbarn durchaus delikat (siehe S. 7). Daheim wird diese Politik nach wie vor nicht anders vorgetragen als mit der unterschwelligen Bitte „Vertraut uns!“. Fragen nach weiteren Erklärungen pflegt die Gesundheitsministerin mit dem Verweis auf die Komplexität der Lage zu begegnen, die man selbstverständlich im Auge habe und mit mehreren „Parametern“ erfasse. Doch wie diese zusammenspielen, hat Paulette Lenert noch nie gesagt, und zu welchen Politiken das führen soll, muss die Regierung immer wieder neu festlegen.

Andere Länder gehen nicht ganz so vor. In Neuseeland gilt seit dem Frühjahr ein Fünf-Stufen-Plan, der öffentlich ist und zu nachvollziehbaren Politiken führt. Österreich hat sich eine „Ampel“ gegeben, Irland einen Stufenplan. Was keine rein technokratische Instrumente sind, weil Spielraum für politische Entscheidungen bleibt, die aber werden verständlicher in einem strategischen Rahmen, der publik ist. In Luxemburg dagegen nährt das Fahren auf Sicht jene Gerüchte, die behaupten, der Regierungsrat ähnele in Sachen Covid einem Basar, wo darum gefeilscht werde, welchem Bereich was auferlegt bleibt.

Seit Mitte Dezember zeigen sich aber feine Unterschiede in den Politikansätzen innerhalb der Koalition. In der Kammersitzung am 8. Januar wiederholt Grünen-Fraktionschefin Josée Lorsché, dass ihre Fraktion eine Langzeitstrategie wolle. Das hatte sie schon am 15. Dezember erklärt, als die Regierung in einem durch die Kammer einstimmig angenommenen Entschließungsantrag aufgefordert wurde, eine solche Strategie auszuarbeiten. Am 8. Januar meint Lorsché, in der Pandemie bestehe die Gefahr darin, „aus Bürgern perfekte Pandemiebürger zu machen“, die sich „unter dem Deckmantel einer Nullrisiko-Politik ihre Freiheiten dauerhaft beschneiden lassen“.

Das ist eine interessante Nuance gegenüber dem Vortrag, den DP-Fraktionschef Gilles Baum hält: Auch er spricht von „Freiheiten“, meint aber unter anderem die Freiheit, vom Black Friday profitiert zu haben, auf den hin die Infektionen nicht zugenommen hätten. Lorsché dagegen lässt sich auch so verstehen, dass den Bürger/innen die Corona-Politik besser verständlich gemacht werden müsste, statt alle paar Wochen ein neues Gesetz in Kraft zu setzen, von dem allein die Regierung genau weiß, wie es zustandekam.

Entsprechend bewegt wird die Sitzung, als die Regierung sich daran macht, die jüngsten Änderungen zu begründen. Da sie von den Epidemiologie-Empfehlungen ihrer Experten abweicht, geht sie eine Wette auf die nahe Zukunft ein, in der es hoffentlich zu keinem erneuten Aufflammen kommt. Premier Xavier Bettel erklärt, „den Taux de positivité ass stark erofgaang!“, und macht nach jedem Wort eine Kunstpause, damit der Satz besser ankommt. Allerdings ist mit dem „Taux“ der Anteil der Covid-positiv Getetesten gemeint, und der wurde über die Feiertage dadurch beeinflusst, dass weniger getestet wurde. Das EU-Seuchenschutzzentrum ECDC rät, der „Taux“ jener Personen, denen ein Test wegen Covid-Symptomen ärztlich verschrieben wurde, müsse unter drei Prozent liegen, da sonst „almost surely no succesful containment“ der Seuche möglich sei. Dieser Anteil liegt in Luxemburg in der Woche der Kammersitzung bei im Schnitt 5,6 Prozent, ähnlich wie in der Woche zuvor.

Zu begründen, weshalb die Regierung dem Expertenrat nicht folgt, fällt vor allem der Gesundheitsministerin zu. Politisch ist das anspruchsvoll: Paulette Lenert könnte sich als für die öffentliche Gesundheit Verantwortliche profilieren, indem sie zu verstehen gäbe, die epidemiologischen Expertisen sehr ernst zu nehmen, aber im Kabinett Beschlüssen zugestimmt zu haben, die nicht nur die Epidemiologie in Betracht zogen. Doch das tut sie nicht. Im Politzirkus noch ungeübt und vielleicht auch einfach müde nach fast einem Jahr Corona, beschwert sie sich über die „ungefilterte Kritik“ aus der Opposition, womit sie vor allem die CSV meint, und argumentiert rein defensiv: „Fakt ist, dass wir von 700 täglichen Neuinfektionen runter sind auf 148 im Schnitt. Das ist ein klarer Erfolg, da wollten wir hin.“ Allerdings hatte Luxemburg mit 700 die Weltspitze mitbestimmt.

Dass ihre eigenen Experten es der Gesundheitsministerin schriftlich gegeben haben, nur unter 150 Neuninfektionen pro Tag funktioniere das Contact Tracing, bietet besondere Angriffsfläche: Welche Limits die Regierung für die Zukunft anstrebe, will CSV-Fraktionschefin Martine Hansen wissen, „da der Premier erklärt hat, dass die Entscheidungen nicht nach Laune gefallen sind“. Das scheint Paulette Lenert persönlich zu nehmen. „Ja, diese Frage hatten wir heute morgen im Gesundheitsausschuss mal nicht, da wurde mehr über die Jagd diskutiert“, gibt sie spitz zurück. Verheddert sich dann aber in technokratischen Erläuterungen, die schwer verständlich sind, denen sich aber entnehmen lässt, dass das wichtigste Instrument zur Seuchenkontrolle tatsächlich erst ab einem längeren Schnitt von unter 150 Infektionen „anfängt, gut effizient zu sein“.

Den zur Abstimmung stehenden Gesetzesänderungen, weil Bevölkerung und Wirtschaft „ein wenig Luft“ benötigten, kann das nicht den Anschein nehmen, gewagt zu sein. Im politischen Spiel mit der CSV, die einen Plan zu haben vorgibt, ist das zu wenig. Neben dem Fehlen einer Strategie, über die nach außen hin Klarheit herrschen würde, rächt sich, dass die Gesundheitsministerin seit Pandemiebeginn nicht nur Politik erklärt, sondern auch die Epidemielage interpretiert, statt Letzteres auch gegenüber der Öffentlichkeit dem Gesundheitsamtschef übertragen zu haben. Am Ende der Sitzung, als die CSV-Fraktionschefin der Ministerin vorhält, „letztes Mal haben Sie gesagt, mit unter 200 Fällen hätten wir unser Ziel erreicht. Ist das das Ziel? Oder 150?“, springt der Premier auf: „Ich hoffe, dass wir auf Null kommen, aber das schaffen wir nur, wenn wir zusammen in die gleiche Richtung gehen!“

Doch wer alle paar Wochen ein neues Gesetz erlässt, muss sich in immer neue Debatten begeben. Debatten, auf welche die CSV nur wartet. Auf der Oppositionsbank zu sitzen und nichts zu entscheiden zu haben, hat nicht nur Nachteile.

Peter Feist
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