Um zurück an die Macht zu kommen, muss die CSV am 8. Oktober wohl so stark werden, dass sie unumgänglich wird

„Pitsch, Pitsch, Pitsch“

Luc Frieden mit den Kandidat/innen aus dem Südbezirk am Montagabend in Belval
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.10.2023

Schmelz „Si der och prett fir de Wiessel? Prett fir eng nei Politik? Dann stitt op a begréisst eisen nationale Spëtzekandidat Luc Frieden!“, forderte die weibliche Stimme vom Band die rund 200 CSV-Mitglieder auf, die am Montagabend in die Halle des poches à fonte nach Belval gekommen waren, um bei der letzten Wahlveranstaltung im Südbezirk dabei zu sein. Als Frieden die Bühne unter Applaus betrat, spielte die Regie wieder den Bowie-Song Changes ein. Auf der Leinwand im Hintergrund stand in Großbuchstaben „Time for Change“ geschrieben.

„Gëtt et eng besser Plaz wéi hei op der fréierer Schmelz fir ze weisen, wat Mënschen a Politik zesumme kënne maachen, fir d’Zukunft a fir de Räichtum vun dësem Land?“, fragte der in Esch/Alzette geborene und aufgewachsene CSV-Spitzenkandidat, um sich selbst die Antwort zu liefern: „Nee, et gëtt keng besser Plaz. Hei, niewent deenen Héichiewen, wou wärend Joren a Joerzéngten de Räichtum entstanen ass, wou Mënsche geschafft hunn an doduerch zum Fortschrëtt vun eisem Land bäigedroen hunn, an engem Kader, den d’Politik geschafen huet, dat ass Lëtzebuerg, dat ass Lëtzebuerg vu senger beschter Säit.“

Es sind solche Geschichten, die Luc Frieden faszinieren. Private Investoren, die einen als Naherholungsgebiet genutzten 90 Hektar großen, sagenumwobenenen Wald zum Spottpreis von der Allgemeinheit abkaufen, die Hälfte davon abholzen, um darauf umweltverschmutzende Fabriken zu errichten, in denen sie Arbeiter/innen unter lebensgefährlichen Bedingungen und gegen Hungerlöhne ausbeuten. Bevor sich die Schmelz in Belval ansiedelte, wurde im Escher Bësch hochwertiges Mineralwasser gefördert, das in die ganze Welt exportiert wurde. Die Pläne, ein Thermalbad dort zu errichten, mussten wegen der Staub- und Lärmbelästigung durch die Schmelz aufgegeben werden, die Mineralwasserproduktion wurde Anfang der 1930-er Jahre eingestellt. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem Rechtsstreit zwischen dem Betreiber der Quelle und der mächtigen Gelsenkirchener Bergwerks-AG.

Parallel zur fortschreitenden Industrialisierung Luxemburgs stieg die Rechtspartei zur Regierungspartei auf. Den gesetzlichen Rahmen zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen setzten die rechtsliberalen Regierungen erst nach jahrzehntelangen Sozialkämpfen zwischen Gewerkschaften und Schmelzherren. Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm die CSV unter Joseph Bech und Pierre Werner Anstrengungen zur Diversifizierung der Wirtschaft durch die Ansiedlung von neuen multinationalen Großbetrieben wie Goodyear, DuPont de Nemours und Monsanto und legte den Grundstein für die Entwicklung des Bankenplatzes, auf der Basis des Holding-Gesetzes, das Notabeln von Rechtspartei und Liberalen schon 1929 durchgesetzt hatten. Pierre Werner und Jean-Claude Juncker setzten den legalen Rahmen für den Aufschwung der Fondsindustrie.

Patriarchen Luc Frieden, der schon als Finanzminister die Tax-Ruling-Industrie förderte, die vor zehn Jahren den Lux-Leaks-Skandal auslösten, sieht sich in der Tradition der großen CSV-Patriarchen, die Luxemburg nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch schon davor, maßgeblich geprägt haben. „Stolindustrie, Handwierk, Finanzplaz, Satellitten: Ouni CSV-Staatsministere wäre mer haut net do, wou mer wären“, verkündete er am Montag in Belval. Allerdings wehrt Frieden sich gegen die Darstellung von „Gambia“, das Wahlprogramm der CSV, das er als Spitzenkandidat vorgegeben hat, stelle eine Rückkehr in die Vergangenheit dar. Seine Politik sei „neu“, behauptet Luc Frieden, sie basiere auf den Erfahrungen von früher, mit neuen Ideen für die Zukunft.

Dahinter steht jedoch die Frage, wie diese Zukunft aussehen soll, welche Vision die Partei anzubieten hat. Seit die CSV nicht mehr an der Macht ist, hat die Welt sich grundlegend verändert. Der Lux-Leaks-Skandal hat zu einer europaweiten Regulierung der Finanzmärkte geführt, der Klimawandel ist akut geworden, die sozialen Ungleichheiten sind weltweit gestiegen, auch in Luxemburg. Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich die Lage noch verschärft. Luc Frieden will bis heute nicht einsehen, dass staatliche Steuervermeidungspraktiken für Großkonzerne nicht nur ein ethisches, sondern auch ein politisches und wirtschaftliches Problem darstellen.

DP, LSAP und Grüne sind in den vergangenen Jahren Kompromisse eingegangen, haben auf Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft reagiert, ohne den Finanzplatz dadurch zu schwächen. Gleichzeitig haben sie versucht, bei der Ansiedlung von neuen industriellen Großbetrieben Kriterien wie Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Faktoren zu berücksichtigen. Das hat dazu geführt, dass Konzerne wie Knauf, Fage und Google ihre Fabriken oder Datenzentren nicht in Luxemburg gebaut haben. Vor allem aber stellten diese Entscheidungen einen Bruch mit jahrzehntelanger CSV-Politik dar, genau wie die ökologischen, strategischen Visionen für Luxemburg im Jahr 2050, die Wirtschaftsminister Franz Fayot und Umweltministerin Joëlle Welfring ausarbeiten ließen.

Alt an Friedens Politik ist, dass er diesen Bruch rückgängig machen will. Dass er wieder mit Steuerdumping Kapital nach Luxemburg anziehen möchte, um jeden Preis den Finanzplatz ausbauen will, wie er es schon vor 20 Jahren tat. Neu an seiner Politik ist, dass er das offenbar noch konsequenter tun will, als es unter Jean-Claude Juncker vorstellbar gewesen wäre. Dass er ethische und soziale Standards sowie Natur- und Umweltschutz, die auf globaler Ebene immer mehr an Bedeutung gewinnen, der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Wachstum unterordnen will. In der Industriepolitik will die CSV „vermeiden, dass Raumplanung und Naturschutz wichtige Projekte ausbremsen“, wie in ihrem Wahlprogramm steht.

Neu ist vielleicht auch, dass Luc Frieden sich im Wahlkampf als Alleinherrscher inszeniert. Schon nach seiner Ernennung zum Spitzenkandidaten hat er den ideologischen Rahmen für das Wahlprogramm der CSV vorgegeben und in den Bezirken die Spitzenkandidaten nominiert, die seiner Meinung nach dieses Programm am glaubhaftesten verkörpern – die meisten von ihnen sind, wie er, Juristen. Von Ideologiefreiheit und Pragmatismus, wie sie noch Claude Wiseler auf Kongressen vor zwei Jahren proklamierte, redet in der CSV heute niemand mehr. Unter Luc Frieden ist die CSV neoliberaler und wertkonservativer – kurzum ideologischer – geworden.

Profil Die Entscheidung der Parteispitze, Frieden aus der Versenkung zurückzuholen, hat auf jeden Fall dazu geführt, dass die Christsozialen ihr Profil wieder geschärft haben, nachdem sie sich in den ersten Oppositionsjahren inhaltlich vielleicht zu sehr den drei Regierungsparteien angenähert hatten. Obwohl die CSV 2018 nicht maßgeblich geschwächt wurde und noch immer stärkste Partei im Parlament ist, hat es für eine Regierungsbeteiligung nicht gereicht. Die CSV ist sich bewusst, dass das vor allem daran lag, dass keine Partei mit ihr eine Koalition eingehen wollte.

Ob sich das mit der Nominierung von Luc Frieden geändert hat, ist fraglich. Neben programmatischen Differenzen ist es vor allem das autoritäre Auftreten des Spitzenkandidaten, das die anderen abschreckt. DP, LSAP und Grüne haben in den vergangenen Jahren versucht, bei richtungsweisenden Entscheidungen einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. In der Pandemie hat Premierminister Xavier Bettel die Tripartite entdeckt, die er eigenen Aussagen zufolge künftig auch in Steuerfragen zu Rate ziehen möchte (obwohl Wirtschaftsminister Franz Fayot noch im Sommer 2022 hinsichtlich der Steuerpolitik betont hatte, die Tripartite dürfe keine Alternative zur Regierungspolitik sein). Mit dem Klimabiergerrot wurde der partizipative Ansatz noch erweitert. Insgesamt scheint Blau-Rot-Grün inzwischen trotz aller Kritik auf eine breitere zivilgesellschaftliche Akzeptanz zu stoßen als die CSV mit ihrem heiseren, schmächtigen, mit der Faust auf den Tisch schlagenden Spitzenkandidaten, der auf den Fotos in den Wahlbroschüren mit seinem hellblauen Ralph-Lauren-Hemd und dem um die Schultern gebundenen dunkelblauen Strickpulli aussieht, als käme er gerade vom Golfplatz oder aus dem Yachtclub. In einer Gesellschaft, die Geschlechtergleichstellung, gegenseitigen Respekt und soziale Anerkennung verlangt, wirken Friedens Auftreten und seine patriarchalische Haltung wie aus der Zeit gefallen.

Nur in der CSV scheint das offenbar niemanden zu stören. Zwar hat die Partei ihr Exekutivkomitee nach dem Rücktritt von Frank Engel erneuert und die wichtigsten Ämter paritätisch besetzt, doch außer seiner Vertrauten Elisabeth Margue im Zentrum und der Fraktionsvorsitzenden Martine Hansen im Norden hat Frieden keine Frau zur Spitzenkandidatin ernannt. Sowohl programmatisch als auch personell ist die Erneuerung der CSV nur Fassade. Dass Claude Wiseler ausgerechnet den politisch vorbelasteten Luc Frieden zurückgeholt hat, ist bezeichnend für eine rückwärtsgewandte Partei, die es nicht geschafft hat, sich in zehn Jahren Opposition neu zu erfinden, und die kein Vertrauen in ihr politisches Personal hat. Und Ausdruck davon, dass die CSV die Schmach von 2013 noch immer nicht überwunden hat, als DP, LSAP und Grüne endlich den Mut aufbrachten, eine Koalition gegen sie zu bilden. Obwohl es eigentlich schon seit 1959 rechnerisch möglich gewesen wäre, haben DP und LSAP vor 2013 nur einmal ein Bündnis ohne die Christsozialen geschlossen (das immerhin den Sozialdialog institutionalisierte, Schwangerschaftsabbrüche legalisierte, das Recht auf einvernehmliche Scheidungen einführte und die Todesstrafe abschaffte); als Dreierkoalition mit den Grünen hätte es theoretisch schon ab 1994 gereicht (außer 2009). Allerdings war die Zeit dafür erst vor zehn Jahren reif, auch weil die drei Spitzenkandidaten von damals sich persönlich gut verstanden und die Parteien sich programmatisch aufeinander zubewegten. Die DP war unter Xavier Bettel und Claude Meisch sozialer geworden als noch unter Charles Goerens und Lydie Polfer, die LSAP unter Etienne Schneider liberaler und die Grünen unter dem realpolitischen Félix Braz regierungsfähig.

Monaco Am 8. Oktober werden Blau, Rot und Grün ihre Dreierkoalition fortsetzen, wenn sie ihre Sitzmehrheit behalten. Davon ist man nicht nur in der CSV überzeugt, auch die Wähler/innen konnten in diversen Wahlsendungen beobachten, wie die Spitzenkandidat/innen von LSAP, Grünen und DP ihre gemeinsame Politik verteidigten, sich gegen Luc Frieden verbündeten, ihn isolierten, ihm eine Politik bescheinigten, „wéi se virun enger Zäitchen hei am Land gemaach ginn ass“, wie Sam Tanson es am Dienstagabend im RTL Télé ausdrückte. Franz Fayot sprach vergangene Woche im RTL Radio von „aler Politik“, „eng Standuertpolitik, wou mer eis plus ou moins als e klengt Monaco hei presentéieren“ und Xavier Bettel bezeichnete gegenüber Reporter Friedens Ansatz als „vun uewen erof, Pitsch, Pitsch, Pitsch“. Eigentlich will keine der drei Regierungsparteien eine Koalition mit der CSV von Luc Frieden eingehen, der seit Wochen vor allem um die Gunst der Liberalen buhlt.

Die einzige Möglichkeit für die CSV, doch noch zurück an die Macht zu gelangen, besteht darin, so stark zu werden, dass eine Koalition ohne sie nicht möglich ist. Unumgänglich wäre sie, wenn sie ihre 21 Sitze behalten würde, glauben viele in der Partei, vorausgesetzt die Grünen verlieren, während DP und LSAP stagnieren. Deshalb wollte sie in der letzten Wahlkampfwoche noch die unentschiedenen Wähler/innen mobilisieren – rund ein Drittel wie der Politologe und Wahlforscher Philippe Poirier noch am Montag im Quotidien behauptete. Man brauche vor allem Listenstimmen, sagte am Montag dem Land der frühere Parteipräsident Marc Spautz, der sich zuversichtlich zeigte, dass die CSV im Süden ihre sieben Sitze verteidigen kann. 2018 hatte sie neben DP und LSAP einen der drei Restsitze bekommen. Den gelte es nun zu verteidigen, vor allem gegenüber den Sozialisten, die im Süden einen Sitz hinzugewinnen wollen. Allerdings sind die Vorzeichen dafür nicht die allerbesten, denn die LSAP schnitt bei den Gemeindewahlen in den großen Südgemeinden relativ gut ab und kehrte in Differdingen, Käerjeng und Schifflingen in den Schöffenrat zurück, wo sie Koalitionen mit der CSV einging. In Esch/Alzette konnte Georges Mischo sein Bündnis mit DP und Grünen zwar gerade noch retten, steht aber seitdem in den Gemeinderatssitzungen unter Dauerbeschuss. Vergangene Woche auf der Table Ronde des Tageblatt im Escher Stadttheater blamierte sich der député-maire, als er die Anpassung des sozialen Mindestlohns an die Inflation forderte, woraufhin Claude Meisch ihm erklärte, dass das längst der Fall sei. Anstatt sich für seinen Fehler zu entschuldigen, entgegnete Mischo seinem Kontrahenten von der DP: „Ech versti lo net, firwat der Äerch sou opreegt.“ Mit dem Satz „Dir braucht net sou opgereegt ze reagéieren“, wies auch Luc Frieden in der „Elefanteronn“ am Mittwoch Paulette Lenert zurecht, als sie ihm erklärte, dass sie sich der Ungerechtigkeiten im Steuersystem durchaus bewusst sei, weil sie sie persönlich erfahren habe.

Luc Laboulle
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