Paulette Lenert ist zur Politikerin geworden. Das eröffnet Optionen nach allen Seiten

Wer mit wem, vielleicht

Walowend am Mittwoch in Mertert
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.10.2023

Eine von ihrem Arbeitstag gezeichnete, aber ziemlich zufriedene Paulette Lenert steigt am Mittwochabend die Stufen zum Separee im ersten Stock des Merterter Restaurants Urban hinauf. Es ist der letzte Walowend, den die LSAP im Heimatbezirk der nationalen Spitzenkandidatin ausrichtet, die mit Ben Streff auch die Bezirksliste anführt.

Gut 60 Leute sind gekommen. Was die Restaurant-Etage füllt, doch die DP zog am Montag in Junglinster ein doppelt so großes Publikum an. Wahrscheinlich aber sind 60 schon viele für eine LSAP-Versammlung im Osten. Lenert fasst ihre politische Position so zusammen: Allen soll es gutgehen. Man müsse in die Menschen investieren und für soziale Gerechtigkeit sorgen. Gehe es dem Land schlecht, sollten die, die mehr haben, etwas davon abgeben. Dann hätten sie Grund, auf sich „stolz zu sein“. Solche Thesen haben es zwischen Mosel und Müllerthal traditionell nicht leicht. In den letzten 25 Jahren errang die LSAP im Osten nie mehr als einen Kammersitz. Zwar sind die Sozialisten in Mertert mit seinem Hafen stark, seit den Wahlen vom 11. Juni halten sie, neben Düdelingen und Steinfort, nur noch hier die absolute Mehrheit im Gemeinderat. Aber das ist für den Osten eine besondere Ausnahme von der Regel.

Es ist deshalb nicht ohne Risiko für die LSAP, die Gesundheitsministerin, die in der Pandemie zur beliebtesten Politikerin aufgestiegen war, im Osten antreten und sie gerade von hier aus Anlauf aufs Premier-Amt nehmen zu lassen, den großen Traum der Sozialisten. Die Partei hofft auf einen Heimspieleffekt für die Remicherin und dass er am besten noch einen zweiten Ostsitz nach sich zieht. Für Tess Burton etwa, die 2013 und 2018 hinter Nicolas Schmit Zweitgewählte. Tatsächlich aber wurde die LSAP im Osten immer schwächer. Von 17,99 Prozent der Stimmen bei den Wahlen 1999 ging es auf 12,88 Prozent 2018 bergab. Von der Gentrifizierung, den Mittelschichtenwählern mit Hauptstadt-Job, die mehr und mehr auch im Osten ihren Wohnsitz nehmen und die auch die LSAP ansprechen will, profitiert sie nicht. Im Unterschied zu den Grünen und der DP.

Ins Merterter Urban seien „nicht nur unsere Leute“ gekommen, insistiert Paulette Lenert. Wenn dem so ist, dann ist die Stimmung gleichwohl freundlich für die LSAP und ihre sieben Kandidat/innen. Und falls sich aus den Gesprächen, die das Land mit Leuten im Saal führt, eine Präferenz für die nächste Regierung ableiten lässt, dann bestünde die in einer dritten Runde für die aktuelle Dreierkoalition. Bei der CSV, den Eindruck kann man haben, gibt der Spitzenkandidat Anlass zur Skepsis. Weniger wegen dem, was er als Programm vertritt, als wegen seiner Vergangenheit als Minister.

Seit die Sonndesfro vor knapp fünf Wochen der LSAP in Aussicht stellte, ihre drei 2018 verlorenen Kammersitze wiedererlangen zu können, ist nach dieser Arithmetik (von 1 887 Wahlberechtigten bezogen) nicht nur die Fortsetzung von „Gambia“ möglich, mit 31 Sitzen und dann der LSAP als stärkster Partnerin im Bündnis. Sondern auch eine Koalition von CSV und LSAP mit 32 Sitzen, wovon die LSAP 13 innehätte. Allem berechtigten Misstrauen gegenüber den Umfragen zum Trotz, hat das Sonndesfro-Ergebnis im Wahlkampf seine Spuren hinterlassen. Gerade bei der LSAP mit ihren Ambitionen auf den Premier-Posten für Paulette Lenert.

Anders als 2018 hat die LSAP sich dieses Mal keine „roten Linien“ für Koalitionsverhandlungen erklärt. Und registriert mit Interesse, dass auch die CSV keine hat – abgesehen von jener, „alles“ zu tun, um wieder an die Regierung zu kommen. Dass Luc Frieden in Koalitionsverhandlungen offenbar auf das Amt des Premiers verzichten könnte, ist den Sozialisten ebenfalls nicht entgangen. Am gestrigen Donnerstag erklärte Frieden dazu in einem Wort-Interview, „über alle Regierungsämter wird man diskutieren müssen“. So ähnlich hatte er sich schon im 100,7 geäußert.

Dagegen zeichnete Premier Xavier Bettel vor drei Wochen rote DP-Linien: Keine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung; das war an die LSAP gerichtet. Nein zu mehr Kindergeld für einen „Choix“ in der Kinderbetreuung. Das ging an die CSV. Bettels dritte rote Linie überraschte: mehr Polizei, eine Gemeindepolizei sowie die Einführung der comparution immédiate. Dieser Schwenk weg vom Linksliberalismus schien eine Geste an konservative Wähler/innen und vor allem ein Wink an die Grünen zu sein, welchen politischen Preis die weitere Zusammenarbeit mit dem „Klima-Premier“ hätte. Für die LSAP wäre die comparution immédiate dem Vernehmen nach aber ebenfalls schwer zu schlucken.

Wird das am Ende dazu führen, dass DP und LSAP jeweils für sich um die CSV werben werden, wenn das Wahlresultat dazu Grund gibt? Am Montag in Mertert bleibt Paulette Lenert politisch flexibel, als sie aus dem Publikum zur Arbeitszeitverkürzung und zur Sicherheit gefragt wird. Ein Hotelbetreiber aus dem Müllerthal sagt: „Wir haben jeden Tag geöffnet. Ein Hotel muss das, aber anders hätten wir auch nicht genug Umsatz, um Strom und Gas zu bezahlen, das wird ja alles immer teurer. Und dann kommt ihr mit der 38-Stundenwoche!” Lenert beschwichtigt: Es seien ja zunächst nur „Pilotprojekte“ vorgesehen, um herauszufinden, was geht.

Die zweite Frage stellt ein älterer Herr, der in Esch geboren ist: Sei er dort zu Besuch, fühle er sich in der Alzettestraße „nicht mehr sicher“. Was die LSAP dagegen unternehmen will? Lenert hebt zu einer längeren Rede über mehr Rekrutierung bei der Polizei und die Bedeutung von Streetwork an. Schon klar, sagt der Fragesteller, aber könnte man nicht, solange noch Polizisten fehlen, private Sicherheitsleute auf Streife schicken? Lenert fasst sich kurz: Die Regierung wolle diese Zuständigkeit bei der Polizei belassen. Zu Problemen in Esch könne sie nichts sagen, und Südkandidaten seien keine im Saal. – Eine Sicherheitsdiskussion im Ostbezirk zu führen, ist heikel.

Das führt hin zu dem zweiten denkbaren Szenario nach den Wahlen: Schneiden die LSAP und Lenert am Sonntag stark genug ab, könnte die CSV eine Koalition und den Premier-Posten für Lenert anbieten.

Dass sie keineswegs mehr die Quereinsteigerin ist, der Politik nicht liegt, hat sie in den letzten Wochen von Radiointerview zu Fernsehduell immer deutlicher demonstriert. Im „Face-à-Face“ auf RTL mit Xavier Bettel etwa trieb sie diesen in die Defensive. Sagte, er müsse „die Steuertabelle richtig lesen“, dann verstünde er auch die Ideen der LSAP zur Einkommensteuer. Und hielt ihm vor, dass die DP keine konkreten Vorschläge habe: „Deshalb ist es ganz schwer, mit Ihnen zu debattieren.“

Wer ihr dabei zuschaut, bemerkt, dass Paulette Lenert an solchen Auseinandersetzungen offenbar Spaß hat. Anders als zu Covid-Zeiten, als Angriffe im Parlament gegen ihre Politik sie aus der Fassung bringen konnten. Die interessante Frage bei Schwarz-Rot mit Lenert als Premier wäre die, wie groß der politische Gestaltungsraum für sie und die LSAP ausfiele, wenn die CSV vermutlich die stärkste Partei in der Kammer bleibt. Und wenn der Vizepremier im Kabinett Luc Frieden heißt und kein Teamplayer ist, wie Xavier Bettel.

Peter Feist
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