Während die Mitstreiter/innen von Sam Tanson im Zentrum Straßenwahlkampf führten,
redete die Spitzenkandidatin sich sachkundig durch Wahlsendungen. Die Vorwahlwoche der Grünen

Seriös

Sam Tanson und François Bausch
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.10.2023

Um halb acht am Montagmorgen war Sam Tanson in Form. In einer Elefantenrunde auf Radio 100,7 koppelte sie Sozial- und Wohnungsbaupolitik und staatliche Lenkungsoptionen: „Mit unserer Politik, in der wir auf den Staat und den Sozialwohnungsbau setzen, ermöglichen wir, die Preise besser unter Kontrolle zu halten.“ Ein zentrales Problem, das den Bau verzögere, seien nicht die Naturschutzgesetze, wie der CSV-Spitzenkandidat Luc Frieden moniere, sondern die Gemeindeautonomie. Jede Gemeinde besitze ihre eigene Reglementierung, man komme als Staat nicht daran vorbei, eine Homogenisierung anzustreben. Überdies werde nicht dicht genug gebaut – zu viele Bürgermeister befürchten, sich bei ihren Einwohner/innen unbeliebt zu machen. „Ech hu vu Bauprojeten héieren, déi hu bis zu 65 Joer retard – net wéinst Fliedermais – mee wéinst dem Remembrement.“ Am Tag darauf legte sie in der von Caroline Mart moderierten RTL-Sendung „Wie gëtt nächste Premier“ nach, und richtete an den CSV-Spitzenkandidaten: „Herr Frieden meint, mit Leadership seien alle Probleme zu lösen, aber ich höre aus CSV-geführten Gemeinden, in denen an Bauträger ausgerichtet wurde, man würde bis nach den Wahlen keine weiteren Prozeduren einleiten.“

Drei Stunden nach der Ausstrahlung des Interviews auf Radio 100,7 luden grüne Abgeordnete und Minister ins Café Independent ein. Sie wollten ein weiteres Motto unter die Wählenden bringen: „Et ass net egal, ween‘s du wiels.“ Während der Pressekonferenz richtete die Spitzenkandidatin Sam Tanson ihren Appell an die circa 283 000 Wähler/innen: „Bei dëse Wale steet immens vill um Spill.“ Nur bei den Grünen würde man die ökologischen Themen in allen Bereichen mitdenken. Und dank der Grünen seien nun 83 Prozent aller Wasserquellen geschützt. Wer ernsthaften Naturschutz will, müsse die Grünen wählen.

In Meris Sehovics Gesicht vereinte sich – bevor die Mikrofone der hiesigen Radiosender angeschaltet waren – eine Mischung aus Konzentration und Angespanntheit: Der Vizeparteipräsident ging an einem Cocktailtisch seine Notizen durch; schaute gelegentlich auf, um den Fotografen zuzulächeln. Aber es scheint, ihm ist nicht wirklich danach. Die Grünen im Süden sind deutlich geschwächt aus den Gemeindewahlen im Juni hervorgegangen. Weil Meris Sehovic trotz einem Absturz von drei auf zwei Sitze erneut eine Koalition mit CSV und DP in Esch/Alzette einging und die LSAP deshalb in der Opposition stecken bleib, handelte er sich vom Tageblatt ordentlich Tadel ein. Noch diese Woche warf die Tageszeitung den Grünen in Esch vor, als schwächtes Glied den Entscheidungsträgern von Blau und Schwarz hinterherzudackeln. Die Ko-Spitzenkandidatin im Süden, Joëlle Welfring, ist ihrerseits noch nicht an der politischen Front angekommen: „Ich war 47 Jahre keine Politikerin. Das hier ist mein erster Wahlkampf, ich lerne noch“, sagte sie dem Land vor zwei Wochen. Menschen anzusprechen und ihnen ein paar grüne Programmpunkte zu vermitteln, das liege ihr nicht.

Am Montagabend traf der Bezirk-Zentrum mit seinen zwei Spitzenkandidaten Sam Tanson und François Bausch im Cercle-Cité ein. Begonnen wurde der Abend mit einer Vorstellungsrunde. François Benoy und Djuna Bernard schlugen einen Bogen zwischen grüner Politik und Pfadfinder-Mentalität. „Als gute Pfadfinderin versucht man die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als man sie vorgefunden hat“, rief die Mamer-Gemeinderätin Richtung Publikum. Jean-Marc Cloos und Gilles Losch verknüpften ihre politische Motivation mit ihrer Vaterschaft – Kinder würden sie für Umweltprobleme sensibilisieren. Gaby Damjanaovic und Nora Forgiarini erinnern daran, dass Kandidaten aus den großen Parteien zumeist in der Zivilgesellschaft fest verankert sind – letztere ist Präsidentin von Schëtter hëlleft, erstere von Interactions. Für einen Lacher sorgte das Mitglied des Exekutivkomitees Paul Zens: Bevor er sich vorstellte, entschuldigte er sich zuerst für einen Fleck auf seinem Hemd (der aber von den Publikumsreihen aus nicht sichtbar war). Während des Umtrunks planten die Grünen neue Aktionen, um im Straßenbild sichtbar zu bleiben. Ein Stand am Mittwoch auf dem städtischen Markt? Paul Zens schreibt zwischen rohen Karotten, Blumenkohl und Dip-Saucen eine E-Mail. Nur knapp über 50 Personen waren am Montag im Cercle-Cité anwesend – geht für lokale Wahlabende nicht zu viel Zeit drauf? Jessie Thill, mit 27 Jahren die Jüngste der Zentrumsliste, zeigte sich optimistisch: die Anwesenden wirken vielleicht als Multiplikatoren.

Am Dienstag um 17 Uhr haben sich sechs Grüne bei der Haltestelle Léon XIII in Bonneweg eingefunden, um Flugblätter und Kugelschreiber zu verteilen. In einer Seitenstraßen haben sie ihr Cargo-Fahrrad mit der Aufschrift, „Bei Gréng rullt et“, aufgestellt. „Jede Stimme zählt – vor allem wegen der Restsitzverteilung“, strahlt François Benoy. Laut Studien sind 30 Prozent der Wählenden in der Vorwahlwoche noch unentschieden, wirft seinerseits Transport- und Verteidigungsminister François Bausch ein. „Deshalb ist es wichtig jetzt in den Vierteln anwesend zu sein.“ Diese Wahlkampf-Taktik habe man sich in Deutschland abgeschaut. Einige Vorbeilaufende nehmen Flyer und Kugelschreiber an und laufen weiter. Andere winken ab: „Ech hu scho gewielt“ (knapp über 70 000 Wählende bevorzugten dieses Jahr die Briefwahl). Einige laufen an dem hingestreckten Kugelschreiber vorbei. Mehrere Personen bleiben stehen und stellen Fragen: Zum Wohnungsbau, zu Klimaanpassungsmaßnahmen, zu Problemen in ihrem Wohnviertel. Eine Frau peilt mit ihrem Rollator Minister François Bausch an – sie sei mit ihm verwandt und möchte nur kurz Hallo sagen. Auf Luxemburgisch antwortet eine Person, sie sei Ausländer und dürfe nicht wählen. Doch meistens ist es umgekehrt: „Man trifft seit 2018 immer häufiger auf nicht-luxemburgisch Sprechende, die wählen gehen“, analysiert der parlementarische Mitarbeiter Fabrizio Costa.

Ein vorbeigehendes älteres Pärchen wünscht François Benoy „viel Glück für Sonntag“. Der Bonneweger Kandidat ist heiter, obwohl seine Tage derzeit streng durchgetaktet sind. Morgens um halb acht vereinen sich Personen der Zentrumsliste, um Werbematerial vor Sekundarschulen oder Bahnhöfen zu verteilen – später am Tag tauchen sie vor Supermärkten und auf öffentlichen Plätzen auf. Sam Tanson ist ebenfalls Bonnewegerin, aber für Straßenwahlkampf hat sie kaum Zeit; in der Vorwahlwoche hat sie sich zudem eine leichte Erkältung eingefangen. Ihren Wohnort thematisiert sie vorzugsweise in Debatten rund um Drogen- und Sicherheitsfragen: „Ich wohne in der Nähe des Abrigado, dort geistern viele kranke Menschen herum. Weitere kleinere sanitäre Einrichtungen könnten der Verlotterung der Bahnhofsumgebung entgegenwirken“, spulte sie am Montagabend das Programm der Grünen runter.

Immer wieder äußerte die studierte Juristin und Frontfrau bissige Anspielungen Richtung CSV. Wäre es nicht konsequenter, sich für und gegen eine bestimmte Koalition auszusprechen? „Man kann keine demokratisch ausgerichtete Partei als Koalitionspartner ausschließen“, meint Fabrizio Costa. „Aber, dass Luc Frieden finanzpolitischen Populismus verkauft, ist erschreckend.“ François Bausch rechnet mit einem Schmunzeln vor, dass die CSV möglicherweise ihren Restsitz im Osten an die LSAP verlieren wird. Zugleich weiß er, dass die Wählermigration innerhalb der linksliberalen Koalition hoch ist. „Eine Studie besagte, dass Menschen ihre bestehende Regierung tendenziell bestätigen, wenn am Wahltag die Sonne scheint. Unter den Voraussetzungen seien die Leute mit ihrem Leben so wie es ist zufriedener“, will François Benoy mit skurriler Wahlpsychologie bespaßen. Um Wahlspekulationen anschließend abzuwürgen: „Am Sonntagabend wissen wir mehr.“

Mit Sam Tanson gibt es weder emotionalen Singsang noch Pathos – sie ist eher Merkel als Macron. Das wirkt distanziert. Caroline Mart fragte diesen Dienstag: „Hutt der et net esou mat der Proximitéit?“ „Doch natürlich. Darum geht es – es geht um den Austausch“. Gegenüber dem Essentiel sagte sie unlängst, sie sei „von Natur aus ziemlich ruhig“. Sie könne nicht so tun, als ob sie anders wäre. „Auch wenn ich vielleicht etwas zurückhaltend wirke, liebe ich es, mich mit Menschen zu unterhalten“. Außer auf Facebook – dort habe sich eine „extrem negative Stimmung gegen grüne Politik breit gemacht“, erläutert sie im September gegenüber Reporter. Deshalb habe sie ihren Account gelöscht. „Die Attacken haben aber kaum was mit unserer Politik zu tun. Häufig wird einfach die Kritik der deutschen Grünen – Stichwort Heizungsgesetz – auf uns übertragen.“ Nun verbreitet sie vor allem über Instagram sach- und parteiorientierte Botschaften.

Während der RTL-Sendung mit den vier Spitzenkandidat/innen blieb Sam Tanson inhaltlich solide; sie ist Dossierfest und zitiert mühelos Studien. Bei der Klimakrise gehe es darum, uns als Menschheit zu schützen, man könne Klimaherausforderungen nicht hinten anstellen. „Wa mer d’Biodiversitéitskris ausklammeren, da fabrizéiere mer schonn déi nächst Kris.“ Es sei wichtig, Städte und Kommunen zu begrünen, um die Temperaturen im Sommer nach unten zu drücken, führt sie aus. Doch dann ergreift Premier Xavier Bettel das Wort und rückt den Klimawandel ins Hier und Jetzt: „Den 8. Oktober ginn et 25 Grad!“ Anschließend wirft er Wetter und Klima durcheinander, aber das fällt kaum auf, weil Xavier Bettel bereits neue Bilder gefunden hat, um die Zuschauer emotional aufzurütteln. Vor kurzem sei er noch mit Staatsoberhäuptern von Inselstaaten zusammen, „die fragen sich, wie lange ihre Insel noch bestehen wird“. Und nochmals rückt er das Thema ins Lebensumfeld der Wählenden: „Wir hatten ein Tornado im Süden; wir hatten mehrere Überschwemmungen – wir sind in einer Klimakrise.“ Sam Tanson hat verpasst, was Xavier Bettel gut kann: Sie stellt kaum Unmittelbarkeit her, sie redet nicht anschaulich, sie überrascht nicht mit kantigen Begriffen. Hinzu kommt, dass der DP-Kandidat seit Juli beansprucht „Klima-Premierminister“ zu sein. Den Titel darf er sich ganz ungeniert aneignen, ohne Gefahr zu laufen unter den Rädern des Green-Bashing zu landen, denn den kassieren Sam Tanson und ihre Mitstreiter/innen bereits ein. Er kann makabere Züge annehmen. Ende September meldete die Partei, im Raum Grosbous sei ein Plakat mit einem Einschussloch auf der Stirn von Sam Tanson gesichtet worden.

Aber die Grünen haben nicht nur Gegner. Mit ihrer seriösen Art und distanzierten Freundlichkeit weckt Sam Tanson möglicherweise Vertrauen bei den Wählenden. Allerdings: Genau das macht auch „säi Stil“ von Paulette Lenert aus.

Stéphanie Majerus
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