Wer am Dienstagabend an der Luxexpo ankommt, fühlt sich sogleich im süßlichen Flair der 90er-Jahre gebadet, als zumindest Westeuropa den Eindruck hatte, die Welt sei noch in Ordnung. Neben dem Bingewatching auf dem heimatlichen Sofa gibt es eben auch lebensechte Wege, den Alltag und die etlichen Krisen auszublenden. Aus den Lautsprechern dröhnen eingängige Playlists mit No Doubt und Outkast, die Menschenmasse wippt vorsichtig hin und her. Am DJ-Pult steht Andrew Hypes, Justin Timberlakes´ Tour DJ, und serviert Mash-ups von House of Pain. Es ist nach Sting und Green Day und vor Guns N’Roses ein weiterer musikalischer Retromoment des hiesigen Sommers, in dem es sehr viele Retromomente gibt. (Man darf sich fragen, wann ein Megastar, der gerade jetzt auf der Höhe seines Schaffens ist, diese Bühne ausfüllen wird.)
Justin Timberlakes’ Publikum, 16 000 an der Zahl, besteht jedenfalls mehrheitlich aus Frauen, die meisten sind über 35. Man erblickt Grüppchen aus Freundinnen, Müttern und Töchtern, ein paar vereinzelte Familien, die ihre Kinder zum ersten Mal auf ein großes Konzert mitbringen. Sylvia ist aus Völklingen angereist, ihre Freund Katja aus RheinlandPfalz. Sie seien „mittelmäßige Fans“, doch Justin sei die Musik aus ihrer Jugend. Ansonsten hören sie Paul Kalkbrenner, „Elektro, R´n´B und House“. Zu beobachten gab es einen hohen Prozentsatz an Leoparden-Muster, Glitzer im Gesicht und auffallend wenig Die-hard-Fans, die mit einem Justin-t-Shirt zum Konzert gekommen wären. Um halb acht wird dann der norwegischen Sängerin Dagny und ihrer Band die Aufgabe übertragen, die Schar mit eher rockigem Pop mit Synth-Einflüssen aufzuwärmen. Es gelingt ihnen nicht recht, das Publikum scheint wenig mit ihrer Musik anfangen zu können.
Justin Timberlake glänzt seit zweieinhalb Jahrzehnten am Pophimmel. Gemeinsam mit Britney Spears fing er als kleiner Junge aus Memphis, Tennessee im Mickey Mouse Club an, wurde in den 90er-Jahren Mitglied der äußerst erfolgreichen Boyband Nsync. Michael Jackson wollte zu jener Zeit ein Duo mit ihm. Timberlake fassonniert sich als eine Art boy next door, aber mit mehr Sexappeal und einer Prise lässigem Machismos, baut sich dann seit den frühen Nullerjahren eine beträchtliche Solokarriere auf: Mehr als 54 Millionen verkaufte Alben, zehn Grammys, endlose Zusammenarbeiten mit den Größen des R’n’B Timbaland, Pharrell Williams und Jay-Z. Heute hat er mehr als 15 Milliarden Streams auf Spotify, 71 Millionen Follower auf Instagram. Er ist Vater und seit dreizehn Jahren mit der Schauspielerin Jessica Biel verheiratet.
Eine Studie zeigte vergangenes Jahr, dass Musik, die mit Nostalgie in Verbindung gebracht wird, Regionen im Gehirn ankurbelt, die mit Emotionen, Selbstreflexion und Erinnerung zu tun haben. Somit wäre auch wissenschaftlich unterstrichen, dass Musik eine besondere Rolle in der emotionalen Entwicklung und Konsolidierung von Erinnerung und Identität spielt. Der Soundtrack der prägenden Jugendjahre birgt umso mehr die Möglichkeit einer Zeitreise. Insofern lässt sich die Frage, was einst relevante Popstars machen, wenn sie gefühlt nicht mehr so erfolgreich sind, einfach beantworten: Sie spielen die Hits von früher weiter. „Genau wie er werden wir auch älter“, sagt Claudia, großer Nsync-Fan und nun Mutter von zwei Kindern von neun und fünf Jahren, die Justin Timberlake nicht kennen. Sie schenkte ihrer Freundin das 150-Euro-Ticket zum Geburtstag. Zwei andere Frauen hoffen laut, dass er „nicht zu viel neue Musik spielt“.
Justin Timberlake ist den amerikanischen Demokraten zuzuordnen, er trat bei der Amtseinführung von Joe Biden auf. Die zunehmende Politisierung, die die Popkultur ergriffen hat, hat ihm bis vor zwei Jahren wenig geschadet. Das People Magazin nannte ihn gar den „Teflon-Mann“ – alles perlt einfach an ihm ab. Das änderte sich, als Britney Spears ihn in ihren Memoiren The woman in me 2023 als Fremdgeher beschrieb, der sie unter Druck setzte, eine ungeplante Schwangerschaft abzubrechen. Das Ende dieser stark mediatisierten Beziehung war 2002 ein Lehrstück im Sexismus: Justins Karriere hob ab, Britney wurde misogyner Medienkritik unterworfen und durfte die Scherben aufheben.
Ein weiterer Moment, den Justin Timberlake ohne weiteres überstand, war der Nipplegate-PR-Stunt aus dem Jahr 2004, der charmanterweise von den puritanischen Amerikanern „wardrobe malfunction“ getauft wurde. Bei einer Performance des Songs Rock your Body zog Timberlake Janet Jackson während der Superbowl-Halbzeit beim letzten Satz „I better have you naked by the end of this song“ das Bustier runter, sodass ihre gesamte Brust herausfiel. Janet Jackson durfte nicht auf den Grammys auftreten, ihre Karriere bekam einen kräftigen Knacks, Timberlake machte weiter. 2021 kam eine offizielle Entschuldigung an Janet Jackson und Britney Spears. Es würde ihm zutiefst leid tun „for the times in my life where my actions contributed to the problem, where I spoke out of turn, or did not speak up for what was right“. Er fand, er habe von einem System profitiert, das Misogynie und Rassismus unterstütze. Zwei Jahre später, Timberlake war in den Genuss von Spears’ Buch gekommen, erklärte er: „I’d like to take this opportunity to apologize to absolutely fucking nobody.“
„Er ist nicht top in punkto Männlichkeit“, sagt Claudia. Andere interessieren sich heute Abend nicht für solche soziologischen Analysen. Sie wollen eine good old-fashioned Tanzparty. Um Punkt 21 Uhr sollen sie diese bekommen; erst betreten die zahlreichen Tennessee Kids, Timberlakes’ Band, die Bühne. Dann der Entertainer himself, mit Sonnenbrille und Bart, in lässiger schwarzer Baggyhose mit Kette und kaki-blauer Patchworkjacke. Er verneigt sich vor dem Publikum, dann gibt es das Stück Mirrors zu hören, der Bass wummert. Smartphones werden gezückt, alle singen mit. Timberlake, begnadeter Tänzer, legt immer noch gute Moves dar. (Die FAZ meinte 2006, „es gibt derzeit wohl keinen anderen weißen Popstar, der sich bewegt wie dieser dürre Hering“.) Das Publikum der Luxexpo hat er innerhalb von einer Sekunde um den Finger gewickelt. Herzen fliegen im entgegen, er wird gefeiert wie einst Könige. Timberlake blendet seine größten Hits mit Übergängen ineinander: My love, Cry me a river, Señorita, Like I love you. Mal spielt er Gitarre, kurz Orgel. Justin Timberlake, 44 Jahre alt, hat wenig Energie eingebüßt. Die Show ist ausgefeilt und unterhaltsam, er braucht sich nicht warm zu spielen. Eine kleine Pause nutzt er für eine Charmeoffensive: „How we feelin’ tonight? You look good, Luxembourg. Can I call you Lux?“ Weiter geht es mit Hüftschwungen mit den Backgroundsängerinnen.
Links vor der Bühne stehen fünf Jugendliche. Ella, Jay, Layne, Salomé und Mila liegen mit zwischen 15 und 17 Jahren deutlich unter dem Altersdurchschnitt. Ihr Look reiht sich mit Baggyhosen und Bandana jedoch problemlos in die Neunziger ein – woher kennen sie Justin Timberlakes Musik? „Von unseren Eltern“. „Das ist schon oldschool, aber ich höre viel Hiphop aus dieser Zeit, Eastside, Westside“, sagt Jay – Tupac oder Snoop Dogg etwa.
Die besten, souligsten Songs, die Justin Timberlake auf seinem Zenith zwischen 2002 und 2014 produzierte, handeln meist um „kitten, ass and titties“, wie er im Song Memphis vorträgt. Einstudierte Lässigkeit und eine gewisse Dominanz gehören dazu, auch wenn Teile des Popbusiness sie heute ablehnen. Nach den drei Alben Justified, FutureSex/LoveSounds und The 20/20 Experience fokussierte sich Justin Timberlake zwischen 2009 und 2013 zwischenzeitlich auf das Schauspiel, war unter anderem in David Finchers The Social Network zu sehen und in Inside Llewyn Davis von den Coen Brothers. Mit seiner Rückkehr zur Musik, Man of the Woods aus dem Jahr 2018, wagte er sich mit Country-R’n’B in bizarre Gefilde. Im Song Supplies vermischen sich Prepper-Gedanken mit Retterfantasien: „I’ll be the wood when you need heat /I’ll be the generator, turn me on when you need electricity / Some shit’s ‘bout to go down, I’ll be the one with the level head / The world could end now, baby, we’ll be living in The Walking Dead /‘Cause I got supplie-ie-ies / Supplie-ie-ies.“ Die Zeit nannte es einen „schlecht kaschierten Versuch, sich bei den wichtigsten Protest-Hashtags der Gegenwart einzuhaken“. Das deutsche Feuilleton zerriss das Album in der Luft. Timberlake wirke mit seinem haltungslosen Pop wie aus der Zeit gefallen, urteilten die Kritiker. Im New Yorker wurde 2019 festgehalten: Justin Timberlake spielt kaum mehr eine Rolle im Popuniversum. Dann doch lieber ganz unpolitisch weiter mit den Hüften shaken? Mit dem letzten Album Everything I thought I was lief es kaum besser. Er spielt vergleichweise wenig Songs davon, und serviert den Leuten stattdessen seine Hits von früher.
Auf der Luxexpo legt Justin Timberlake souverän Can’t stop the feeling hin, ein Hit des Trolls-Films aus dem Jahr 2017. Dance dance dance, glücklicher kann ein Publikum nicht aussehen. „I love it here“, sagt der Sänger in einer Pause, I might not leave“. Eine Frau schreit daraufhin so laut, dass sie in Ohnmacht fallen könnte. „Y’all made a Tennessee’s boy come true“. Romantische Töne werden angeschlagen, Timberlake spielt Gitarre. Dann der ultimative Hüftschwung-Titel: Sexy Back zum Grand Finale. Nach dem Konzert wird prompt die 90-er Playlist angeschmissen. Free from Desire von Gala aus dem Jahr 1997 schallt aus den Lautsprechern auf den riesigen Parkplatz, gefolgt von Coronas The Rhythm of the night von 1994. Eine Schar von Tausenden bewegt sich mitsingend und tanzend in die Nacht.