Antoine Fischbach, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zum Projekt der Alphabetisierung auf Französisch, spricht über die Hyper-Diversität der Schüler und die Lügen des Bildungssystems

„Ein Game-Changer“

Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 18.07.2025

d’Land: Seit drei Jahren lernen Kinder in vier Grundschulen auch auf Französisch lesen und schreiben. Eine Generalisierung des Projektes ist ab 2026/2027 für den Cycle 2.1 vorgesehen. Können Sie die gesellschaftliche Relevanz dieses Projektes aus Sicht der Wissenschaft erklären?

Antoine Fischbach: Die Forschung der letzten 15 bis 20 Jahre hat mehrmals bewiesen, dass das, was wir hier traditionell machen, nicht mehr funktioniert. Das liegt insbesondere, aber nicht nur, an der Super-Diversität der Bevölkerung, in der nur noch ein Drittel der neu eingeschulten Kinder Luxemburgisch oder Deutsch zuhause spricht. Das ist kein Problem per se, nur geht das traditionelle Schulsystem implizit davon aus, dass drei Drittel der Kinder dieses Kriterium erfüllen. Außerdem haben wir ein äußerst anspruchsvolles Bildungssystem. Es ist mir kein anderes System bekannt, in dem so früh so viele Sprachen gelernt werden – und das ohne Fremdsprachendidaktik. Luxemburgisch als Integrationssprache ab dem Précoce und Cycle 1, das Heranführen ans Französische, dann die deutsche Alphabetisierung ab dem Cycle 2, die für viele Kinder eine Fremdsprache ist, wenn wir sehr streng sind auch für die Luxemburger. Nicht mal fünf Prozent der Kinder werden in ihrer Erstsprache alphabetisiert. Französisch kommt intensiver im Cycle 2.2 hinzu und auch das Rechnen wird auf Deutsch vermittelt. Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, dass viele Kinder innerhalb der ersten Jahre überfordert sind. Die Rückstände holen sie nicht mehr auf.

Bildungsreformen nehmen meist viel Zeit in Anspruch. Diese Reform scheint gerade zügig voranzugehen. Weshalb?

Ich habe nicht den Eindruck, dass es schnell geht. Die Diskussion wird seit den 70er-Jahren geführt. Linguistisch war das Land damals noch verhältnismäßig homogen, es ging vor allem um sozioökonomische Unterschiede. Der demografische Wandel kam, die Probleme haben wir jedoch in die hyper-diverse Zeit mitgeschleppt. Es gab zwei oder drei Mal die Möglichkeit, in diese Richtung zu gehen, doch der soziodemografische Druck war nicht groß genug und es verlief im Sand. Die Reform ist ein halbes Jahrhundert in der Mache.

Auch die sozialistische Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres, die die Reform der Grundschule durchdrückte, konnte und wollte sich 2010 nicht ans Projekt heranwagen. Haben Sie den Eindruck, dass das System kippen würde, wenn nichts passiert?

Meiner Meinung nach hätte das viel früher geändert werden müssen. Nach dem Referendum zum Ausländerwahlrecht 2015 war eigentlich klar, dass es politisch keine Realität werden würde. Über einen Umweg, den der internationalen öffentlichen Schulen, wurde mehr Flexibilität in den Sprachunterricht gebracht. Was die Beschleunigung angeht: Wie lange soll man warten? Ich stelle mit etwas Sorge fest: Vor zwei Jahrzehnten haben wir uns gefreut, wenn überhaupt jemand eine wissenschaftliche Studie im politischen Dialog zitierte. Heute frage ich mich, ob das Pendel nicht zu sehr in die andere Richtung ausschlägt. Dass also auf eine Evidenz gewartet wird, die nicht kommen kann. Im Koalitionsabkommen steht geschätzte zwanzig Mal drin, dass wir mehr Studien brauchen. Doch wir müssen aufpassen, uns nicht hinter der Wissenschaft zu verstecken. Die Effekte größerer Bildungsstudien unter Realbedingungen, sprich nicht im Labor, liegen im kleinen bis moderaten Bereich; wie es zum Beispiel schön in Hatties Visible-
Learning-Studie veranschaulicht wird. Wenn jemand darauf wartet, eine perfekte Evidenz für dieses Projekt zu bekommen, kann man bis Mokuchsdag warten. Die Forschung geht bis zu einem gewissen Punkt, dann ist politischer Mut gefordert. Wir haben versucht, aus allen Richtungen mitzuforschen. Statistisch gesehen, sind die Effekte so stark, wie sie derzeit sein können, auch im Kontext der kleinen Fallzahlen. Es gibt eine Idee in der Wissenschaft, die mir besonders gut gefällt, die der „constructive replication“ von David T. Lykken. Er schlug vor, Dinge aus leicht unterschiedlichen Perspektiven zu beobachten; wenn dann immer noch Harmonie in den Resultaten herrscht, ist man an etwas Universellem dran.

Was ist Ihnen bei der Begleitung des Pilotprojektes aufgefallen?

Es war eye-opening, in diese Klassen hineinzugehen. Ich komme aus der empirischen Bildungsforschung und bin eher an große Datensätze gewöhnt. Ich habe an der Uni jedoch in der Praxis angehender Lehrkräfte im Klassensaal beobachtet und habe selbst auch die Ausbildung zum Grundschullehrer am Iserp abgeschlossen. In den vier Klassen des Pilotprojektes, in denen ich war, hat jedes Kind mitgearbeitet und war dabei. Ich war wohl zumindest in der Hälfte der Schulen dieses Landes mindestens einmal anwesend. Im Vergleich dazu war die Situation meist eine andere: Ein Drittel ist gut dabei, ein Drittel ist noch ein bisschen aufmerksam, und das letzte Drittel ist völlig abgehängt. Im wissenschaftlichen Beirat haben wir über diese sprachliche Sicherheit diskutiert, dass man sich ausdrücken kann, dass man Fehler machen darf. Was ich auch nicht erwartet hatte, ist die Rolle des Luxemburgischen. In Larochette beispielsweise waren wenig Kinder, die zuhause Luxemburgisch sprechen. Im Schulhof und in den Klassen wurde das Luxemburgische trotzdem sehr schnell zur lingua franca. Das Luxemburgische hat nun einen klaren Platz in den anderen Fächern, wie es ihn vorher nicht gab. In den Deutsch- und Französisch-Gruppen ist das Lehrpersonal auch systematisch in der Unterrichtssprache geblieben, was ich so systematisch auch nicht kannte. Allgemein fällt das Lehrpersonal nämlich oft zurück ins Luxemburgische. Für die Kinder, die Deutsch und Luxemburgisch nicht beherrschen, wird es dann sehr schwierig. Wenn alle Sprachen Fremdsprachen sind, und sie sich linguistisch nahestehen, wird alles eher in einen Topf geworfen.

Im Bericht ist zu lesen, dass Schüler/innen sich gegenseitig in der Unterrichtssprache Dinge erklären. Dass sie den linguistischen Kontext also strukturiert erkennen und reproduzieren.

Ich bin kein Experte für multilinguale Pädagogik, aber ich denke, es ist wie mit vielen anderen Dingen: Man macht das nach, was vorgelebt wird. Wenn das Lehrpersonal nicht aus der Rolle fällt, machen die Schüler/innen das ebenso.

„Une didactique de l’intégration des langues et des disciplines reste à developper. Le recours à des approches telle que la juxtaposition ou la comparaison des langues nous semblent propices à faire les élèves progresser plus rapidement.“ Was bedeutet das konkret?

Der wissenschaftliche Beirat besteht auch aus Linguisten und Experten in der Mehrsprachigkeit. Was wir festgestellt haben, aber das ist dann schon die Königsklasse, ist, dass das Potenzial für den Transfer zwischen den Sprachen noch ausgebaut werden kann. Das Lehrpersonal, das sich am Pilotprojekt beteiligt hat, hat das didaktische Material selber mitentwickelt, das heißt bei einer Generalisierung gibt es wesentliche bessere Startumstände. Als Beispiel: In einer Éveil-aux-sciences-Stunde ging es um Bienen. Die Schüler bekamen französische und deutsche Bücher und sollten in kleinen Gruppen die Körperteile des Insektes in den zwei Sprachen benennen. Drei Viertel der Schüler/innen hatten die Aufgabe am Ende adäquat gelöst. Die Resultate wurden an der Tafel zusammengetragen. Auf Französisch stand dort les pattes, auf Deutsch die Beine. Les pattes de l’abeille kann man sagen, aber auf Deutsch würde man das Wort Pfoten in diesem Kontext nicht benutzen. In diesem Moment gibt es Lernpotenzial in der Mehrsprachigkeit, das man in einem solchen Unterricht noch ausschöpfen kann. Auf einem Meta-Niveau über Sprache zu diskutieren, kann in der Fortbildung noch weiter entwickeln werden.

In einem Bericht des OEJQS aus dem Jahr 2022 heißt es : „Tel que documenté par la recherche en sciences sociales et en sciences de l’éducation, l’acceptation des characteristiques potentiellement discriminatoires d’un système éducatif est fortement ancrée dans la culture du pays et reflète un certain était d’esprit corporatiste et conservateur.“ Das Lehrpersonal ist von diesem Schulsystem geprägt. Anderswo im Bericht zum Projekt Alpha schreibt ein Regionaldirektor, die Hauptvoraussetzung für den Erfolg der französischen Alphabetisierung liege in der Offenheit gegenüber Veränderung. Gibt es sie?

Change management ist immer schwierig. Jedes Land ist konservativ, was sein Bildungssystem anbelangt. Der Zukunftsforscher Sheizaf Rafaeli sagte in diesem Zusammenhang, wenn ich einer Person, die die Banken vor sechzig Jahren kannte, eine heutige zeigen würde, würde sie sie nicht wiedererkennen. Eine Schule könnte jedoch sofort identifiziert werden. Auch die Lehrkräfte waren einmal Schüler, und es ist immer erbaulich, etwas zu sehen, was man kennt und selbst erlebt hat. Unser Nationalmotto „Mer wëlle bleiwe wat mer sinn“ deutet vielleicht darauf hin, dass unsere Grundwerte etwas konservativer sind als in anderen Ländern. Das zeigt sich dann auch am Bildungssystem. Natürlich gibt es einen historischen Kontext für dieses Motto, doch in einer Welt, die sich immer schneller dreht, ist das Aussterben so vorprogrammiert. Was ist die Rolle einer öffentlichen Schule? Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend sagt, es gehe um vier Dinge: Qualifizierung, das heißt das Lernen, Sozial-
isierung, der gesellschaftlich-soziale Aspekt, Selektion, die Orientierung, wer wo arbeiten wird, und wichtigerweise auch die Legitimierung, das heißt, dass die Schule gesellschaftliche Werte weitergibt. Wir haben hier eine atypische und delikate Situation: Die Mainstream-Gesellschaft hat per Definition eine politische Lobby und stellt zum großen Teil die Staatsbeamten und somit das Lehrpersonal. Der Mainstream ist in absoluten Zahlen betrachtet und im Vergleich zu den Einwohner/innen eine Minderheit. Dazu hat die Hälfte der Bevölkerung kein Wahlrecht. Ich denke, das führt dazu, dass man konservativer bleibt.

Das Lehrpersonal steht vor großen Herausforderungen: die Inklusion, die sprachliche Hetereogenität. Patrick Remakel von der Gewerkschaft SNE (CGFP) erklärte diese Woche im 100,7: „Iegendwann klappt den Enseignant zesummen.“ Das SNE sei nicht gegen die französische Alphabetisierung, aber es sei nicht der Moment, noch mehr Veränderungen einzuführen.

Ich kann sagen, die Umsetzung des Projektes ist eine Herausforderung. Unterrichten ist in den letzten zehn bis zwanzig Jahren unter den Umständen dieser Hyper-Diversität und andererseits den historisch gewachsenen Sprachenanforderungen, die im internationalen Kontext du jamais-vu sind, zur gigantischen Herausforderung geworden. Tatsächlich ist es aufgrund dieses Clashes zur mission impossible geworden. In diesem Kontext ist die Generalisierung der zweigleisigen Alphabetisierung eine potenzielle Piste, um der Überforderung entgegenzuwirken. Wenn wir es schaffen, dass eine Reihe Kinder wieder mehr mitarbeiten können, dass es dann im Sprachenunterricht und in der Mathematik homogenere Gruppen gibt, dann kann man auch wieder anders arbeiten. Zum Teil liegt die Lösung der mission impossible darin, die Schule wieder an die Schüler/innen anzupassen, nicht die Schüler an etwas, was schon lange überlebt ist. Was die Inklusion angeht, war es uns im Pilotprojekt wichtig, realistische Rahmenbedingungen zu schaffen. Es gab nicht mehr Ressourcen als sonst, und es war an Orten, an denen sozial schwächere Schüler/innen zur Schule gehen: in vier Schulen in Schifflingen, Larochette, Düdelingen und Differdingen. Der Kontext war nicht einfach, es gab Kinder mit Hörschwierigkeiten und herausfordernde Situationen mit einem Schüler, der regelmäßig tiefgreifend den Unterricht gestört hat. Und doch hat es auch dort geklappt. Die Lehrkräfte freuen sich, dass sie ihren Schüler/innen etwas bieten können, wo sie Erfolgschancen haben. Es ist pädagogisch sehr frustrierend, wenn viele so früh auf der Strecke bleiben.

Erlauben Sie mir ein Gedankenexperiment. Wir schreiben das Jahr 2040, der Großteil der Kinder wird auf Französisch alphabetisiert. Die Schüler/innen wählen ihrem Sprachprofil nach eher die internationalen Lyzeen aus. Wie stellt sich das traditionelle System nun auf?

Es wäre unwissenschaftlich, mich dazu zu äußern. Aber vielleicht deckt es sich mit meiner vorherigen Aussage: Wenn wir bleiben wollen, was wir sind, wird das in einer Welt, die sich immer schneller dreht, nicht mehr funktionieren. In den demografischen Migrationsmustern stellen wir fest, dass vor mehr als zehn Jahren eher romanophone und lusophone Schüler/innen ins System kamen. Das hat sich geändert. Heute wird bei den Neuankömmlingen oft Englisch als lingua franca für diese hochgradig internationale Bevölkerung angegeben. Sie sind zudem oft sozioökonomisch gut aufgestellt.

Wie wird denn jemand alphabetisiert, der zuhause vor allem Englisch spricht?

Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht. Auch deshalb gibt es die internationalen öffentlichen Schulen, wo die Alphabetisierung auch auf Englisch stattfinden kann. Langfristig kann man sich die Frage stellen, wie Luxemburg damit umgeht, dass Englisch immer mehr auf dem Vormarsch ist. Zehn bis fünfzehn Jahre in die Zukunft zu schauen, ist schwierig. Für heute ist dieses Modell adäquat. Ob die internationalen öffentlichen Schulen eine Alphabetisierung auf Französisch und Deutsch noch anbieten müssen, wenn es diese Option in der regulären Schule gibt, bleibt abzuwarten.

Die internationalen europäischen Grund- und Sekundarschulen wurden auch gegründet, um sozial schwächeren Fami-
lien neue Wege aufzuzeichnen. Daten deuten darauf hin, dass die Gehälter der Familien dort jedoch deutlich höher sind.

Zu Beginn wurde gemutmaßt, dass das daran liege, dass bei der Einschreibung selektiv vorgegangen wurde. Ich kann nicht ausschließen, dass es solche Reflexe gibt. So war es sicher nicht gedacht. Wir haben andere Gründe als Erklärung herausgearbeitet: Ich muss erst mal wissen, dass es dieses Angebot gibt und dass es vielleicht besser zu meiner Familie passt. Bildungsferne Familien haben dieses system knowledge eher nicht. Dann muss man informiert sein, dass die Schulen umsonst sind. Die Orientierung spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Es kann auch aus einem Integrationsbedürfnis passieren: Wenn die Luxemburger in diese Schule gehen, ist sie für mein Kind auch gut genug. Dass das System jedoch vielleicht nicht gut fürs Kind funktioniert, dafür braucht es Aufklärung. Die dritte Erklärung ist eher weltlich: Die Schulen liegen verteilt übers Land, im Durchschnitt zwar unter zehn Kilometer von den Einzugsgebieten entfernt. Sozial schwache Familien, in denen Eltern weniger flexible Jobs haben, wählen dann eher die Schule, die mit weniger organisatorischem Aufwand verbunden ist. Das Projekt Alpha ist auch deswegen interessant: Die Orientierung wurde mitgedacht, der logistische Mehraufwand für die Familien entfällt, alles ist gebündelt. Jedes Kind, für das es Sinn ergibt, hat die Möglichkeit, sich auf Französisch alphabetisieren zu lassen. Mit vielen Veränderungen konnte das Lehrpersonal noch weiterarbeiten wie vorher. Doch das hier ist ein Game-Changer. Es ist keine Zauberlösung, aber ein Dominostein, der für mehr Kohärenz sorgen kann, und wo die Weichen nicht so früh gestellt werden.

Könnte eine langfristige Folge nicht auch ein stärkeres Gefälle zwischen der Bildung im urbanen Raum und jener in ländlichen Gebieten sein?

Mag sein. Die Landkarten im Bildungsbericht und die Karten der Wohnungspreise des Liser kann man 1:1 aufeinanderlegen. Im Norden gibt es zum Beispiel in Wiltz eine rasant ansteigende Diversität. Ich dachte lange, dass die sprachliche Vielfalt, die es hier im Land gibt, einzigartig sei. Heute sage ich, wir sind Avantgarde. Was wir hier sehen, ist nichts anderes als der demografische Wandel in einer globalisierten Welt. In den Nachbarländern finden sich ähnliche Phänomene in den Ballungszentren. In Berlin zum Beispiel sind viele Kinder türkischstämmig, sie haben einen niedrigeren sozio-
ökonomischen Status als die deutschen Kinder. Doch es gibt nur eine Zielsprache. Wir sind ein attraktives Land, aus vielerlei Gründen, und das zeigt sich nun auch im Bildungssystem. Aufgrund der Größe machen verhältnismäßig kleine Veränderungen viel aus. Irgendwie schauen wir heute hier schon in die Zukunft.

Für die Alphabetisierung auf Französisch gibt es einen politischen Konsens. Nur die ADR hält dagegen – indem sie sich dem Status quo verschreibt, der vor allem der Luxemburgisch sprechenden Mittelklasse guttat.

Ich will mich nicht zu Parteien äußern. Es lag jedoch vor ein paar Jahren eine gewisse Hypokrisie darin, zu sagen, Nein, wir wollen nicht zweigleisig fahren, wegen der Integration – aber lasst uns internationale Schulen einführen. Dabei ist das eine viel schärfere Trennung. Zu diesem Zeitpunkt war das politisch tragbar und es hat uns ermöglicht, an diesen Punkt zu kommen. Was wir bisher hatten, ist eine Scheinintegration: Nur weil zwei Schüler die Schulbank gemeinsam drücken, heißt das nicht, dass sie integriert sind. Denn ab dem Ende des Cycle 2 ist mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit klar, wer wohin in die Sekundarschule geht. Die internationalen Schulen sind der Umweg, der viele der Veränderungen vorlebt: Sie sind eher Ganztagsschulen, Grund- und Sekundarschulen befinden sich unter einem Dach, es gibt eine Direktion in der Grundschule, klar definierte Erst- und Zweitsprachen. Muttersprachler unterrichten ihre eigene Sprache. Da ist also eine ganze Menge heiliger Kühe des traditionellen Systems geschlachtet worden. So wurde der Status Quo umschifft.

Der Bildungsminister Claude Meisch (DP) betonte die letzten Jahre öfter, die Dreisprachigkeit werde nicht infrage gestellt. Die Kinder hätten die nötigen Sprachkompetenzen im Cycle 4.2, um jegliches System zu absolvieren. Kaum ein Schüler hat heute am Ende der Grundschule die gleichen Kompetenzen im Deutschen und Französischen. Dennoch: Werden die Unterschiede dadurch nicht größer? An den Sprachkenntnissen für den öffentlichen Dienst hängt viel. Es wird interessant, wie sich der Rest des Systems dem gegenüber verhalten wird.

Das können wir noch nicht wissen. Wir haben im Moment aber de facto keinen équilinguisme. Wir lügen uns seit Jahrzehnten an; eine klare Erst- und Zweitsprache verschafft mehr Klarheit. Die Sprachprofile sind dann systemisch gewachsen, mit ihnen muss ein Umgang gefunden werden. Die Lehrkräfte im Cycle 1.2 bereiten dann aktiv auf die Alphabetisierungssprache vor. Wir wissen, dass wenn die Alphabetisierung und die akademische Erstsprache gut gefestigt sind, es das Erlernen aller anderen Sprachen erleichtert. Wir haben es nicht getestet, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Englischkompetenzen in den Sekundarschulen oft besser wären als die Französischkompetenzen, obwohl wir viel länger Französisch gelernt haben. Ein sensibler Moment ist sicherlich, wenn bei der Französischgruppe Deutsch im Cycle 2 hinzu kommt. Denn das ist eine Sprache, die bei dieser Bevölkerung nicht zuhause genutzt wird, noch kommt sie hier viel im Alltag vor. Wenn die Kinder im Cycle 4 wieder gemeinsamen Sprachunterricht haben, werden sie nicht die gleichen Sprachkompetenzen haben, wie sie es auch die letzten fünfzig Jahre nicht hatten – aber dass sie die Zweitsprache gut beherrschen und eine gemeinsame Beschulung der Gruppen möglich ist, halte ich für realistisch. 

Vita

Antoine Fischbach hat nach der Grundschullehrerausbildung am Iserp ein Masterstudium in Psychologie an der Uni.lu absolviert und anschließend in Psychologie an der Universität Trier in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin und dem dortigen Max-Planck-Institut promoviert. Er war langjähriger Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing (Lucet) und die letzten beiden Jahre Vize-Dekan der Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften (FHSE) der Uni.lu. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Projektes Alpha und empirischer Bildungsforscher. Seit diesem Jahr ist er Honorarprofessor an der Uni Luxemburg und Experte beim Observatoire national de l’enfance, de la jeunesse et de la qualité scolaire (OEJQS).

Sarah Pepin
© 2025 d’Lëtzebuerger Land