Ein Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Léonie de Jonge über Geert Wilders’ Sieg in den Niederlanden, die Entwicklung der ADR und die Rolle der Medien gegenüber rechtsradikalen Parteien

Perpetuum Mobile

Léonie de Jonge
Foto: Reyer Boxem
d'Lëtzebuerger Land vom 01.12.2023

Nach dem haushohen Sieg von Geert Wilders’ rechtspopulistischer Partei PVV bei den Wahlen am 22. November wird Léonie de Jonge von 80 Presseanfragen überschwemmt. Vertreter der Medienlandschaft wollen Erklärungen, Einschätzungen und Kommentare zu diesem Paradigmenwechsel in der niederländischen Politik. Wir erreichen die promovierte Politologin und Professorin an der Reichsuniversität Groningen am Mittwochmorgen via Zoom, kurz nachdem sie einer Handvoll Journalisten bei einer von ihrer Uni organisierten Online-Pressekonferenz die Lage erklärt hat.

d’Land: Waren Sie überrascht von Geert Wilders’ haushohem Sieg? Kurz vor den Wahlen waren seiner Partei 28 Sitze vorausgesagt worden, am Ende sind es 37 geworden.

Léonie de Jonge: Die Möglichkeit, dass die PVV die stärkste Partei werden würde, bestand immer. Ich war an dem Abend im Studio des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und wir hatten vier Szenarien vorbereitet. Auch dieses. Aber überraschend war trotzdem, wie viele Sitze die PVV bekam. In den Niederlanden gibt es viele sogenannte „schwebende Wähler“, die wirklich bis zum letzten Moment nicht wissen, wo sie ihr Kreuz machen. Das war dieses Mal auch so. Bei der letzten Wahl hatte die liberal-progressive Partei D66 aus dem Nichts sechs Sitze dazugewonnen, auch das hatten die Umfragen nicht ergeben.

In den Niederlanden gibt es wie in einigen westeuropäischen Ländern eine sich zuspitzende Wohnungskrise und steigende Lebenskosten. Das allein reicht aber wohl nicht als Erklärung.

Nein. Viele rechte Parteien vermengen die Themen der Migration mit dem Wohnungsproblem. Sie tun so, als sei weniger Migration die Lösung für die Wohnungskrise. Jede Partei quer durch das Spektrum hat deswegen die bestaanszekerheid (Existenzsicherheit) thematisiert und das Thema dadurch entpolitisiert. Im Gegensatz dazu war die Migration das Hauptthema der Wahlen. Wir wissen, dass das von Vorteil für die Parteien rechtaußen ist, vor allem, wenn die Thematik mit der Wohnungsnot gekoppelt wird. Geert Wilders’ PVV profiliert sich ökonomisch „links“, nicht wirklich links, sondern im Sinne des sogenannten Wohlfahrtschauvinismus, also Sozialleistungen nur für Holländer. Da finden sich eine Reihe Wähler. Es stellt auch ein Versagen der moderaten und linken Parteien dar, die ihre Wähler offensichtlich nicht ansprechen konnten. Wilders hat das besser gemacht.

Es wird von einer neuen Ära in der holländischen Politik, von einem Paradigmenwechsel gesprochen. Wie empfinden Sie die Atmosphäre derzeit?

Ich arbeite an einer Universität. Ich höre viele Gespräche über weniger Internationalisierung, also nicht nur weniger Asyl-Migration, sondern auch weniger internationale Studenten und Arbeitsmigration. Das sorgt für viel Unsicherheit bei Arbeitskollegen und Studierenden. Es ist schwer, das zu verallgemeinern, aber Menschen mit Migrationshintergrund äußern ebenfalls Unsicherheit. Interessant ist auch, wie viel Aufregung die Wahlresultate weltweit erzeugt haben. Die unzähligen Medienanfragen kamen aus Japan, aus New York. Viktor Orbán und Marine Le Pen haben Geert Wilders als erste beglückwünscht. Es gibt Sorgen, was das für Europa und die kommenden Europawahlen bedeuten könnte.

Forschung hat gezeigt, dass wenn Mainstream-Parteien in Wettbewerb mit den Parteien am rechten Rand treten und deren Forderungen übernehmen oder sich ihnen annähern, Letztere davon profitieren. In den Niederlanden wird nun der Vorsitzenden der Mitte-rechts-liberalen Partei VVD, Dilan Yesilgöz, vorgeworfen, „das Terrain für Wilders vorbereitet zu haben“. Die neu gegründete New Social Contract unter Pieter Omtzigt, ebenfalls Mitte-rechts, hatte zu Beginn der Wahlkampagne ausgeschlossen, mit Wilders’ PVV zusammenzuarbeiten. Bei den letzten Wahlen haben die Koalitionsgespräche fast neun Monate gedauert. Was sind die Optionen?

Die Initiative liegt jetzt ganz bei Wilders. Sofort nach den Wahlen sagte er, er würde die besonders radikalen Positionen, etwa was den Islam angeht, hinten anstellen. Dass der Gewinner sich etwas kleinmacht, damit andere sich mit ihm an einen Tisch sitzen, hat Tradition. Gleichzeitig war er gestern Abend in Den Haag auf einem Protest gegen ein Asylheim. Er war 18 Jahre wirklich radikal rechts, jetzt stellt sich die Frage, ob das weg ist. Seinem Wahlprogramm zufolge jedenfalls nicht. Eine weitere Frage liegt darin, ob er Omtzigt etwa davon überzeugen kann, dass er es ernst meint mit dem weniger radikalen Kurs. Und viel hängt auch davon ab, was die VVD machen wird. Die logischste Koalition wäre ein rechtes Bündnis zwischen Omzigts NSC, Wilders’ PVV und Yesilgöz’ VVD.

Ihn zu umgehen, ist keine Option mehr?

Das könnte funktionieren. Er könnte aus der Opposition mitregieren wie 2010, als er eine Koalition auf diese Weise unterstützte. Das hatte kein glückliches Ende gefunden, ich kann mir nicht vorstellen, dass die gleichen Parteien das nochmal machen. Eine andere Option wäre, ihn zu umgehen. Vier Parteien müssten sich zusammentun: NSC, VVD, D66 und Frans Timmermans’ Sozialdemokraten, die PvdA, hätten eine kleine Mehrheit mit 78 Sitzen. Das ist aber fast undenkbar, weil die Positionen zu weit auseinander gehen, wenn es um Wirtschaft, Klima oder Migration geht. Schickt man Wilders in die Opposition, riskiert man außerdem die fast 25 Prozent Wahlberechtigten, die für ihn gestimmt haben, in ihrem Vertrauensverlust in die Politik zu bestärken. Das ist ein Spiel mit dem Feuer und bestätigt ihn in seiner Rhetorik. Ich kann mir dieses Szenario aber kaum vorstellen.

Die linken Parteien sind also zu zersplittert, um diesem Vorgang ein kohärentes gesellschaftspolitisches Projekt entgegenzuhalten?

In den Niederlanden sind die linken Parteien historisch immer schon in der Minderheit, seit den 70-er Jahren. Bei diesen Wahlen gab es zum ersten Mal eine Koalition zwischen den Grünen und den Sozialdemokraten. Das war etwas Neues, auch weil sie sonst gar keine Chance mehr haben. Dadurch haben die kleinen linken Parteien an Wählern verloren, weil diese sich strategisch für das größere Bündnis entschieden haben. Insgesamt hat der linke Flügel 18 Sitze verloren und hat jetzt nur noch 50, eine historische Niederlage. Wir haben jetzt nicht mehr zwei Blöcke, sondern drei: einen kleinen Linksblock, einen rechten und einen rechtsradikalen Block.

„If we are not given the opportunity to translate the voice and democratic mandate of millions of people into executive responsibility, we will only become bigger and bigger. Because the genie is out of the bottle and won’t go back in“, schrieb Wilders nach den Wahlen auf X. Der Flaschengeist ist ein interessantes Bild. Hat er das Opfernarrativ und die Rolle des Underdogs nun endgültig aufgegeben?

Populisten schaffen es, sogar wenn sie an die Macht kommen, sich als Underdog zu positionieren. Das sahen wir zum Beispiel auch bei Donald Trump. Diesen Spagat kriegen sie hin. Sie bleiben für immer Underdogs. Trotzdem muss man sagen, dass er nun eine große Verantwortung hat, auch gegenüber seinen Wählern. Manche von ihnen haben völlig unrealistische Erwartungen an ihn, etwa dass er Hypotheken abschaffen würde oder ähnliches. Die Wählerschaft ist übrigens sehr divers, nicht nur bildungsferne und sozial schwache Männer haben für ihn gestimmt. Die zufrieden zu stellen und zusammen zu halten, und gleichzeitig tatsächlich die mögliche Rolle des Premierminister einzunehmen, also weniger zu polarisieren – er hat schon gesagt, er wolle Premier für alle Holländer sein –, das wird spannend bleiben.

Wilders hat wegen Drohungen aus dem islamistischen Milieu stets Bodyguards um sich und eigenen Angaben nach kein Privatleben mehr. Umso stärker ist die Entfremdung vom „Volk“, das er vorgibt zu repräsentieren.

Auch da gibt es Ähnlichkeiten mit Trump. Wilders sitzt seit 1998 im Parlament. Niemand hat so viel Erfahrung wie er. Er kann nicht mehr aus der Politik weggehen, was würde er sonst machen? Er müsste ins Ausland umziehen. Und wer würde dann seine Bodyguards bezahlen? Wilders hat in diesem Sinn keinen Ausweg. Bei den Europawahlen 2019 erfuhr die PVV eine historische Niederlage und es wurde spekuliert, sie würde verschwinden. Damals bekam sie Konkurrenz von Thierry Baudets Partei (Gründer der rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Partei Forum voor Democratie, Anm.d.Red) und Wilders sagte: Ich werde auch noch mit dem Rollator ins Parlament kommen, ihr werdet mich nicht los. Seine Partei ist keine normale Partei. Sie hat nur ein Mitglied: Wilders. Diese One-Man-Show ist bewusst gewählt, zwischen ihm und dem „Volk“ soll nichts stehen. Dieser pure Populismus ist nun zum Problem geworden, da er eine sehr kleine Entourage hat. Er hat wenige Talente in der Partei, die sich für Ministerposten eignen würden.

Die Normalisierung der Positionen am rechten Rand haben auch zu einer Begriffsverschiebung geführt. Welcher Begriff passt auf Wilders und welcher auf die Premierministerin Italiens, Giorgia Meloni?

Der Begriff „rechtsaußen“ wird von Politikwissenschaftlern gebraucht, weil er die Brücke schlägt, denn die Ränder zwischen rechtsextrem und rechtsradikal verschwimmen seit zehn bis zwanzig Jahren. Rechtsradikale Parteien nehmen Pluralismus und Minderheitsrechte vielleicht nicht ganz ernst, sind aber nicht offen demokratiefeindlich und rufen nicht zu Gewalt auf. Rechtsextreme sind antidemokratisch. In den letzten Jahren ist dieser Rand verschwommen, das sieht man zum Beispiel an der AfD gut. Sie begann als euroskeptische Partei und rückte stetig weiter nach rechts; heute sind alle Strömungen von radikal bis extrem in der Partei vertreten. Wenn man den Unterschied weiter unterstreicht, macht man mit bei der Normalisierung. Das wissen die Politiker auch. Wilders ist sehr clever, von Gewalt etwa distanziert er sich sofort. Seine Partei ist ein textbook case einer radikalen rechtspopulistischen Partei. Ein dankbares Bild, um das Studenten zu erklären. Von Medien wird die PVV aber wegen ihres Erfolgs nicht mehr unbedeingt als solche bezeichnet. Das sah man am Wahlabend und das ist problematisch. Die Wähler sind es nicht alle, aber die Partei ist es ganz klar.

In Gesprächen über diese politischen Entwicklungen fällt oft fast im Vorbeigehen das Wort Faschismus.

Für Meloni wird manchmal der Begriff neofaschistisch gebraucht, weil ihre Partei Wurzeln in der Nachkriegszeit hat. Das ist bei Wilders klar anders. Faschismus gebrauche ich als Begriff gar nicht, weil er historisch bedingt ist. Da schwingen totalitaristische Ideologien mit, Gewalt, Monopartei. Von Historikern wird er eventuell mehr gebraucht. Ich persönlich finde, dass der Begriff seine Wirkung verliert, weil er so inflationär gebraucht wird.

Was vereint die Fratelli d’Italia mit dem Rassemblement National, die AfD mit der PVV? Ist es die Europaskepsis, die Klimaleugnung, Immigrationsfragen oder die Idee der korrupten Eliten?

Wenn wir eine kulinarische Metapher nehmen, braucht man als Basiszutaten an erster Stelle Nativismus. Nativismus ist eine xenophobe Form von Nationalismus, die alle Ideen und Personen, die nicht zur Nation gehören, zur Bedrohung für die Kohäsion des Landes erklärt. Das zeigt sich in Anti-Migrationsstandpunkten, bei Wilders besonders was den Islam angeht. Zweitens der Autoritarismus, eine Präferenz für eine strikt geordnete Gesellschaft mit einem starken „Leader“ und Law and Order, strenge Strafen für Kriminalität, mehr Geld für die Polizei und die Verteidigung. Die dritte Zutat ist Populismus, die ist fast schon ein bisschen nebensächlicher. Da geht es um das „wahre Volk“ und gegen die korrupten Eliten. Daraus fließen dann auch Dinge wie Anti-EU-Rhetorik. Es gibt auch Extra-Gewürze, wie etwa die Klimaskepsis und Anti-Gender-Positionen.

Und was unterscheidet sie? Sie internationalisieren sich zunehmend.

Es gibt sehr viele Unterschiede. Die Anti-Islam-Standpunkte sind bei Wilders besonders groß und auch ökonomisch geht es eher Richtung links, ganz anders als eine österreichische FPÖ. Prioritär sind sie nationalistisch und schauen nach innen, deswegen funktioniert ihre EU-Kooperation nicht immer gut. Im EU-Parlament sitzen sie in zwei verschiedenen Fraktionen, weil sie sich nicht einig werden. In der Vergangenheit hat Wilders sich für LGBTQ-Rechte eingesetzt, weil er das als westlichen Wert empfindet und diesen vor dem Islam beschützen will. Das ist nun mehr in den Hintergrund gerückt.

Vor einigen Jahren meinten Sie, Luxemburg hätte noch ein wenig „Verspätung“ gegenüber seinen Nachbarstaaten, was rechtsradikale Parteien angeht. Haben wir ihn nun mit der neuen ADR unter Fred Keup und Tom Weidig, die ein programmatisches Buch herausgegeben haben, aufgeholt?

Ja. Wir sind nicht immun. Dass die ADR die letzten Jahre sehr nach rechts gerückt ist, dass die Anti-Immigrationsstandpunkte sichtbarer geworden sind, zeigt das. Die Strömung ist weniger groß, aber es gibt sie. Das ist nur logisch, da wir es auch in den Nachbarländern sehen.

So sehen sich auch luxemburgische Medien zunehmend der Frage ausgesetzt, wie sie die Berichterstattung über die Partei gestalten.

Der Umgang mit Rechtsaußen-Parteien und Bewegungen stellt eine Herausforderung für den Journalismus dar. Sollten die Medien „Haltung zeigen“ oder lediglich über die aktuellen Fakten berichten? Ist der Journalist eher ein Gatekeeper oder ein neutraler Vermittler von Informationen? Wo genau verläuft die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Diskriminierungsverboten? Und welche Aufgabe hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk in diesem Kontext? Es gibt kein „Blueprint“, der vorgibt, wie der Journalismus mit Populismus oder Extremismus umgehen soll. Meine Forschung zeigt jedoch, dass es für Nachrichtenredaktionen entscheidend ist, klare und formelle Vereinbarungen darüber zu treffen, wo genau diese Grenzen liegen. Wenn solche Richtlinien nicht vorhanden sind, wird es einfacher, sie ständig zu verschieben.

Sind Skandale wie die um die Nazi-Symbolik von Alain Vossen oder um Civitas typisch, vor allem vor den Wahlen?

Nein, das würde implizieren, dass es bewusst Teil einer Wahlstrategie der ADR gewesen wäre. Das war es sicherlich nicht. Es existiert jedoch das Konzept des rechtspopulistischen Perpetuum Mobiles, entwickelt von der österreichischen Politologin Ruth Wodak. Dieses Konzept beschreibt, entlang welcher Linien die Aufregung über radikale, beziehungsweise rechtsextreme Ansichten und Theorien in der Regel verläuft. Das Perpetuum Mobile durchläuft schrittweise verschiedene Phasen: Es beginnt mit der Inszenierung eines Skandals, der die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Anschließend folgt die Leugnung: „Es war nicht so gemeint“ oder eine Quasi-Entschuldigung, gefolgt von der Neudefinition des Ereignisses und dem Umdrehen der Rollen, dem Spiel der Opferrolle, der Dramatisierung und Verschwörung und schließlich der Entstehung eines neuen Skandals. Auf diese Weise bleiben Parteien am rechten Rand dauerhaft präsent in den Medien. Dieses Modell ist bei vielen rechtspopulistischen Parteien sehr häufig anzutreffen.

Biografie

Léonie de Jonge studierte am Cornell College in Iowa (BA Internationale Beziehungen) und an der Cambridge University (MPhil und PhD in Politik und Internationalen Studien). In Cambridge legte die Luxemburgerin mit holländischen Eltern ihr Doktorat mit dem Titel „The Success and Failure of Right-Wing Populist Parties in the Benelux Countries“ ab. Seit 2019 lehrt und forscht sie als Assistant Professor an der Reichsuniversität in Groningen, vor allem zu Rechtspopulismus.

Sarah Pepin
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