Patrick Fautsch arbeitete an den 2017 beschlossenen verteidigungspolitischen Leitlinien mit. d’Land sprach mit ihm über die Verteidigungspolitik heute

Sinn und Zweck der Armee

Patrick Fautsch am Dienstag  in der Land-Redaktion
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2023

Colonel honoraire Patrick Fautsch gehörte der Armee bis Ende März 2018 an. Im Generalstab arbeitete er unter anderem am Armee-Organisationsgesetz von 2007 mit. 2011 beauftragte Verteidigungsminister Jean-Marie Halsdorf ihn, die von Minister Jean-Louis Schiltz (beide CSV) geschaffene Stelle für strategische Planungsaufgaben zu übernehmen. Das schloss die Arbeit an verteidigungspolitischen Leitlinien ein. Von 2013 bis 2016 war Fautsch der Luxemburger Vertreter in den Militärkomitees von Nato und EU, damit der Repräsentant des Stabschefs der Armee. Zurückgekehrt in die Direction de la Défense, wirkte er an der Fertigstellung der „Lignes directrices de la défense luxembourgeoise à l’horizon 2025 et au-delà” mit.

d’Land: Herr Fautsch, welchen Einfluss hat der Krieg in der Ukraine auf die Luxemburger Verteidigungspolitik?

Patrick Fautsch: Er lässt uns wieder bewusst werden, dass Krieg in den Augen von Autokraten keine Anomalie ist. Um unsere freien und offenen Gesellschaften zu schützen, muss der souveräne Rechtsstaat auch gegen Krieg und Konflikte gewappnet sein. Da stellt sich die Frage, wie wir uns positionieren und welche Optionen wir haben. Gegenüber dem Krieg in der Ukraine gibt es keine schmerzfreien Optionen. Zuschauen ist auf jeden Fall keine. Damit würden wir einen Autokraten in der Auffassung bestärken, dass er seine Ziele mit Gewalt erreichen kann.

Meinen Sie, dass EU und Nato eine Strategie haben, um dagegen vorzugehen? Vieles geschieht Schritt für Schritt. Lange sollte es keine Kampfpanzer-Lieferungen an die Ukraine geben. Dann fielen die Entscheidungen dafür doch. Gleichzeitig wurden Kampfflugzeuge ausgeschlossen, aber sicher scheint das mittlerweile nicht mehr. Ist das Ausdruck einer Strategie?

Unter dem Vorbehalt, dass ich keinen Einblick in Entscheidungsprozesse mehr habe, kann ich Ihnen nur meine Eindrücke schildern. Ich denke, im Moment gibt es wohl vereinzelte nationale strategische Ansätze und internationale Abstimmungsprozesse, aber noch keine wirkliche Strategie aus einem Guss, wie die Kriegshandlungen beendet werden könnten und was danach kommen könnte. Beispiel Kampfpanzer: Darauf zu verweisen, dass die deutsche Zurückhaltung in dieser Frage zu Verzögerungen geführt habe, lenkt von kollektiver Verantwortung ab. Man muss das Problem von Kanzler Scholz verstehen. Er konnte das politische Risiko nicht eingehen, eine Lieferzusage im Alleingang zu machen. Die geringe Zahl von Panzern, um die es in einer ersten Runde ginge, könnte keine entscheidende militärische Wirkung erzielen. Immens wäre jedoch der politische Schaden, sobald die Zerstörung eines deutschen Panzer von der russischen Propaganda medienwirksam ausgeschlachtet würde. Also war es völlig verständlich, dass Scholz auf einen abgestimmtem Ansatz mit den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen pochte, der der Lieferentscheidung größtmögliche politische Wirkung garantierte und auch die Aussicht auf militärische Wirksamkeit sicherstellte. Anscheinend gibt es in ganz Europa noch 2 000 Leopard-Panzer. Laut Expertenmeinungen wäre der Ukraine viel geholfen, wenn sie 300 bekäme. Um solche Fragen in Zukunft reibungsloser abzuarbeiten und Eskalationsrisiken abzuwägen, wäre eine Strategie hilfreich. Stattdessen laufen wir den Dingen noch immer hinterher.

Kann das „Schritt für Schritt“ Teil einer Strategie sein, es zu keiner Eskalation kommen zu lassen?

Soweit ich das einschätzen kann ist die Unterstützung der Ukraine, wie sie jetzt erfolgt, völkerrechtlich abgedeckt durch das Recht auf Selbstverteidigung eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates. Durch unsere Unterstützung sind wir also keine Kriegspartei. Dass Russland das politisch anders sieht, scheint mir ebenso klar. Weiteres Eskalationspotenzial, aber auch Möglichkeiten zur Deseskalation, hat eindeutig Wladimir Putin. Die schrittweisen Antworten des Westens sind in diesem Sinne keine Eskalation, aber leider nur reaktiv.

Wenn der Westen immer schlagkräftigere Waffen liefert und Russland dadurch große Verluste erlitte, wie verhindert man, dass die Atommacht zu ganz anderen Mitteln greift?

Das ist eine Diskussion, die man führen muss. Ein strategischer Ansatz ist nötig, um diplomatische Sackgassen und das Risiko einer Eskalationsspirale durch Russland zu vermeiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit einem Akteur zu tun haben, der die Möglichkeit hat, den Spieltisch umzuwerfen, falls ihm der absehbare Spielausgang nicht gefällt. Ich bin aber überzeugt, dass ihm über die richtigen Kanäle klargemacht wurde, welchen untragbaren Preis Russland zahlen müsste, falls es bestimmte Grenzen überschreitet. China ist ebenfalls ein Faktor. Es hat sicher kein Interesse daran, dass Russland als klarer Verlierer aus diesem Krieg hervorgeht. China braucht Verbündete in seinem strategischen Konkurrenzkampf mit den USA. Andererseits kann China keine gravierende Beschädigung seiner Interessen in Europa gebrauchen. Zu Gedankenspielen über die Möglichkeit radikaler Umbrüche in den russischen Führungsstrukturen kann ich mich nicht äußern. Es ist derzeit unklar, ob solche Umbrüche unseren Interessen und denen der Ukraine förderlich wären, denn wir wissen nicht, was danach käme und was das für uns hieße. Das muss nicht unbedingt besser sein.

Was folgt aus all dem für Luxemburg?

Seine Verteidigungspolitik steht unter enormem Ressourcendruck. Einerseits ist die Personaldecke der Armee dünn, andererseits standen ihr noch nie derart viele finanzielle Mittel zur Verfügung. Als ich in den 80-er Jahren meine Offizierslaufbahn begann, generierte die Armee praktisch nur Personalkosten. Ihr militärischer Beitrag im Bündnisfall war eigentlich nicht relevant. Es war jedoch politisch relevant, dabei zu sein und die Luxemburger Fahne hochzuhalten. Heute dagegen sind mehr als 40 Prozent der Verteidigungsausgaben Investitionen. Ich komme aus einer Zeit, da lag das Verteidigungsbudget bei 0,4 bis 0,5 Prozent vom BIP. Heute bewegen wir uns auf 0,7 Prozent zu und es soll weiter Richtung ein Prozent gehen. Politisch scheint mir die Bedeutung der „Zeitenwende“ für uns noch nicht vollständig verinnerlicht worden zu sein. Lange reichten Bekenntnisse zur politischen Solidarität aus, um unseren Status als politisch relevanter Partner zu halten. Heute erfordert das auch die Bereitschaft, relevante Beiträge zu militärischen Fähigkeiten zu leisten. Hinzu kommt, dass Europa nicht noch einen weiteren Weckruf verschlafen darf, auch in verteidigungspolitischer Hinsicht mündig zu werden.

Richtziel der Nato sind zwei BIP-Prozent an Verteidigungsausgaben. Minister François Bausch erklärte am Mittwoch beim Nato-Ministertreffen erneut, das sei für Luxemburg wegen seiner spezifischen Gebenheiten „nicht realistisch“.

Ich glaube, dass Luxemburg kein Interesse daran haben kann, eine offensive Diskussion über die zwei Prozent zu führen. Das ist ein politisches Kriterium, das im Kontext der Nato-Erweiterungen festgelegt wurde. Einerseits als Zulassungskriterium für neue Mitglieder, andererseits, um Ausgabenreduzierungen der Alliierten Einhalt zu gebieten. Aktuell geht es für viele Streitkräfte darum, die Folgen jahrelanger Desinvestitionen zu bewältigen, was hohe Kosten verursacht. Die Nato beruht auf dem Prinzip fairer Lastenteilung. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Beiträge zu Einsätzen und militärischen Fähigkeiten. An den Beschlüssen zu den benötigten Fähigkeiten und der Aufteilung auf die einzelnen Alliierten sind die höchsten Staats- und Regierungsebenen beteiligt. Selbstverständlich berücksichtigt die Nato dabei nationale Besonderheiten. Solange ein Mitgliedstaat sich an das Abgemachte hält, setzt er sich keiner Kritik aus – im Gegenteil. Es ist daher unglücklich, unter diesen Umständen den Eindruck zu erwecken, man wolle aus gemeinsam angenommenen Verpflichtungen ausscheren.

Sie waren an der Ausarbeitung der verteidigungspolitischen Leitlinien beteiligt, die 2017 herauskamen. Wenn man die Leitlinien liest, hat man den Eindruck, dass damit beschrieben werden soll, worin man zu welchem Zweck investiert.

Die Leitlinien sind der Versuch, davon wegzukommen, nur auf äußere politische Umstände zu reagieren. Europa, und damit auch Luxemburg, hat schon einige Gelegenheiten zu „Zeitenwenden“ verstreichen lassen. Etwa die Jugoslawien-Kriege in den Neunzigerjahren. Oder 9/11 und was danach kam. Wir sagten jedes Mal, wir machen etwas, haben Anläufe genommen, aber dann verlief alles mehr oder weniger im Sand. Ein strategischer Wendepunkt war erreicht, als Luxemburg sich Belgien, Deutschland und Frankreich anschloss, um gegen die Sichtweise der USA zur Intervention im Irak Stellung zu beziehen. Daraus entstand eine doppelte politische Notwendigkeit: keine Zweifel an unserer Bündnistreue aufkommen zu lassen und den Lippenbekenntnissen zu einer selbstständigeren EU-Sicherheitspolitik Taten folgen zu lassen. Daraus entstand die Diskussion um das Transportflugzeug A400M und zu der Zeit auch noch um die Beteiligung an einem belgischen Kriegsschiff. Bei aller Kritik, die Minister Charles Goerens (DP) damals einstecken musste, muss man ihm zugutehalten, dass ihm ein Durchbruch gelang: Der erste Ansatz, gemeinsam mit Partnern militärisch relevante Fähigkeiten aufzubauen. Aber eigentlich kann das nur gelingen, wenn man vorher klärt, wofür die Armee, wofür das Militärische überhaupt gut ist. Darüber muss eine breite öffentliche Diskussion geführt werden. Stattgefunden hat sie noch nicht.

Warum?

Weil man in Luxemburg mit Verteidigungspolitik keinen Blumentopf gewinnen kann. Schon als das Armee-Reformgesetz von 1997 vorbereitet wurde, stand im Raum, Sinn und Zweck der Armee in dem Text zu begründen. Der damalige Armeeminister Alex Bodry fürchtete jedoch, dass eine politische Debatte darüber eine „Büchse der Pandora öffnen könnte“. Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Dynamik solcher Debatten schwer vorhersehbar ist. Man erinnere sich nur an die Geschehnisse, die 1967 zur Abschaffung des Wehrdienstes führten.

Zum Zweck der Armee ist in den Leitlinien von Stabilisierungs-Missionen und vom Kampf gegen Terrorismus die Rede, aber nicht von einem Krieg im Nato-Bündnisfall. Müsste man die Leitlinien neu schreiben?

Sie sind als politischer Prozess gedacht. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung steht, die Leitlinien würden aktualisiert. Das wurde also beschlossen, bevor Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfiel und bevor die Nato in ihrem neuen strategischen Konzept vom Juni 2022 festhielt, dass „im euro-atlantischen Raum kein Frieden mehr“ herrscht. Ob an dem Update gearbeitet wird, weiß ich nicht. In den Leitlinien steht auch, dass ein Plan directeur für militärische Investitionen aufgestellt und jedes Jahr aktualisiert würde. Das soll nicht zuletzt der demokratischen Kontrolle der Investitionsausgaben durch die Abgeordnetenkammer dienen. Es scheint bisher aber nur einen einzigen Plan directeur gegeben zu haben, und zwar 2018. Ich bin skeptisch, ob dieses Jahr noch viel geschieht, denn in acht Monaten sind Wahlen. Die Scheu der Politik vor einer grundsätzlicheren Debatte war deutlich zu erleben, als das Parlament vor ein paar Wochen kurz über den A400M diskutierte. Viele Redner äußerten sich hauptsächlich zu nichtmilitärischen Nutzungsmöglichkeiten. Natürlich kann der Flieger auch dazu dienen. Aber er ist in erster Linie eine militärische Fähigkeit, eingebettet in eine belgische Struktur und unter einem europäischen Kommando stehend.

Wie sollte die Gesellschaft Militärisches Ihrer Ansicht nach verstehen – nach der breiten Debatte, die Sie sich wünschen?

Es kann nicht darum gehen, die Gesellschaft zu militarisieren. Sondern zu fragen: Was braucht unser demokratischer souveräner Rechtsstaat, um die Lebensweise seiner Bevölkerung zu verteidigen und all das, was unser Leben hier so ausmacht? Man müsste auch fragen, welche Risiken wir in Kauf zu nehmen bereit sind, um unsere Interessen zu verteidigen. Es ist klar, dass man zu diesen Themen sehr unterschiedlicher Meinung sein und unterschiedliche Schlüsse vertreten kann. Der Staat kann es sich aber nicht erlauben, diese Diskussion nicht zu führen.

In den Leitlinien steht auch, dass militärische Investitionen möglichst der heimischen Wirtschaft zugutekommen sollen. Dem Vernehmen nach scheiterte der damalige Verteidigungsminister Etienne Schneider (LSAP) aber daran, der Nato bestimmte Dual-use-Ideen zu verkaufen. Sind die Leitlinien in dem Punkt richtig?

Selbstverständlich muss die wirtschaftliche Dimension berücksichtigt werden. Nehmen wir die geplante Anschaffung von 80 neuen gepanzerten Aufklärungsfahrzeugen. Da stellt sich nicht nur die Frage, wie man sie einsetzt, und wie man das Personal ausbildet, das sie bedient, sondern auch die, wie man sie wartet und repariert. Insofern ist jede militärische Investition auch eine Chance für die Wirtschaft. Etienne Schneider ging damals vielleicht insofern zu weit, als er mit Militärischem ein neues Geschäftsmodell kreieren wollte. Um der Nato beispielsweise zu sagen: Wir schaffen zivile Kapazitäten, die sich auch militärisch nutzen lassen, wenn ihr das möchtet. Das funktioniert mit der Nato nicht. Ihr kommt es auf militärische Kapazitäten an.

Die Armee hat ein Personalproblem. Sie schafft es nur die Hälfte der eigentlich nötigen freiwilligen Soldaten zu rekrutieren. Manche Berufsmilitärs kündigen ihre Verträge. Wie kommt man dem bei?

Wenn ich die Statistiken richtig lese, gibt es kein Problem bei der Rekrutierung ziviler Mitarbeiter der Armee. Dann muss man fragen, wieso es bei den Soldaten und Berufsmilitärs nicht ähnlich gut klappt. Ich bin vielleicht zu optimistisch in diesem Punkt, glaube aber, wenn die Gesellschaft darüber diskutiert, welchen Zweck das Militärische hat, und wenn daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden, dann wird das die Armee attraktiver machen. Auf der einen Seite bietet sie interessante Karrieren an hochspezialisierter Technik. Auf der anderen Seite denke ich, dass jungen Menschen daran liegt, etwas Nützliches zu tun. Wenn endlich geklärt wird, wozu die Armee nützlich ist, wird das helfen. Die Frage kann nicht nur die sein, wieviel man bei der Armee verdient, wieviel Freizeit man hat und wie man nach seinem Dienst beim Staat unterkommt. Das ist nicht unwichtig, aber wenn man nur so argumentiert, gelangt man immer wieder zur Feststellung, dass Polizei und Zoll aus demselben Personalreservoir schöpfen, und läuft Gefahr, daran zu resignieren.

Peter Feist
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