Einer kürzlich erschienenen Studie des Statec zufolge kosten Jugendliche ihre Eltern monatlich zwischen 600 und 700 Euro. Verwöhnte Jugend? Auf Spurensuche

We are gold

d'Lëtzebuerger Land du 20.05.2022

Freitagmittag, die Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die Glasfassade des Einkaufszentrums in Cloche d’Or. Die seelenlose Funktionalität, die spätmoderner Architektur vorbehalten bleibt, macht den Schülern, die hier ihrer Mittagspause und ihrem Shopping nachgehen, nichts aus. Bershka, Zara, Pull & Bear, Guess. Swarovski und Sephora, ein Käse-Sandwich und Geselligkeit, was braucht man mehr, um dem Glück zu frönen. „We are gold“ steht in großen Buchstaben auf dem Fahrstuhl. C’est le cas de le dire: Einer kürzlich erschienene Studie des Statec zufolge kostet ein/e Jugendliche/r die Eltern zwischen 600 und 700 Euro im Monat. Dieses Referenzbudget stellt ein Minimum dar. Ausgegangen wurde dabei von einem Jungen von 15 und einem Mädchen von 17 Jahren, der Junge braucht durchschnittlich 592,80 Euro, das Mädchen durchschnittlich 687,80 Euro zum Leben. Das erscheint trotz steigender Inflation hoch. Grund genug, um mal zögerlich zu fragen: Ist „die Jugend“ verwöhnter, materialistischer geworden?

Cylia, 18 Jahre alt, makellos geschminkt, goldene Retro-Brille auf der Nase, macht Mittagspause mit Mateo und May, beide 17. Die drei sind im zweitletzten Jahr, der Première, am nebenan gelegenen Lycée Vauban. „Ich habe jeden Monat ein Budget von 250 Euro zur Verfügung und bin damit sehr zufrieden“, erklärt Cylia. Immerhin gäbe es Menschen, die nichts haben, und sie bestreite ihren Lebensunterhalt nicht selber. Manchmal helfen die Eltern ihr, wenn sie etwas Besonderes wie ein neues Handy braucht. May bekommt alle zwei Wochen 20 Euro für das Mittagessen, und wenn sie sich etwas Schönes leisten will, kann sie ihre Eltern fragen. Mateo hat ebenfalls ein monatliches Budget von etwa 250 Euro zur Verfügung, das sowohl Freizeit als auch Mittagessen abdecken soll.

May gibt ihr Geld am liebsten für Essen und andere Ausgänge wie Kino aus. Auch Mateo zeigt sich post-materialistisch: „Die Kleidung soll lange halten, aber sonst ist mir das nicht besonders wichtig.“ 1 300 Euro für eine Hose, für Stoff, das sei sinnlos. An ihrer Schule würden einige Louis Vuitton und andere Designer-Klamotten tragen, aber sie würden sich weder minderwertig fühlen, noch müssten sie diese Dinge haben. „Überhaupt nicht“, unterstreicht Cylia. „Die Codes, die mit den Marken einhergehen, brauche ich nicht unbedingt“, ergänzt May. Man könne sich auch so modisch kleiden. „Meine Mutter kauft ihre schönen Sachen auf Vinted“ (Vintage-App, Anm. d. Red), fügt Cylia hinzu. Den Kauf eines Gucci-Outfits hingegen fänden ihre Eltern „verrückt“ und würden sowas niemals unterstützen. Richtige Konflikte hätten sie an der Schule wegen solcher Dinge noch nicht erlebt. Herablassende Blicke oder Zurufe in den Schulfluren gäbe es allerdings schon, so Cylia. Nach dem Motto: „Ach was, du ziehst knallige Decathlon-Turnschuhe an? Lame!“

Um den 700-Euro-Betrag in einen Kontext zu stellen, lohnt sich ein Blick auf seine Zusammensetzung. Die Forscher gingen davon aus, dass die Jugendlichen bei den Eltern wohnen. Das meiste Geld (293,10 Euro) wird für Nahrung benötigt, wovon Fleisch, Fisch und Eier den Großteil ausmachen. 17-jährige Mädchen brauchen für Freizeitaktivitäten wie Sport, Kultur und Ausgehen mit 134,70 Euro etwas weniger als 15-jährige Jungs (139 Euro), für Hygieneartikel geben Mädchen mit 40,70 Euro etwas mehr aus als Jungs mit 32,90 Euro. Mädchen gäben mehr für Haarpflege und Intimhygiene-Produkte aus. Kleidung liegt bei beiden Geschlechtern um 65 Euro. Bei älteren Jugendlichen ab 17 fallen höhere Transportkosten aufgrund des Führerscheins an, laut Statec rund 100 Euro. Multimedia-Ausgaben wie Handy und Unterhaltung liegen bei 19,7 Euro. Ein Paar mit zwei jugendlichen Kindern sollte demnach wegen der hohen Wohnkosten in Luxemburg ein monatliches Budget von 4 600 bis 4 700 Euro zur Verfügung haben. Diese Zahlen ermöglichten „eine Zufriedenstellung der wesentlichen Bedürfnisse und eine vernünftige Teilnahme am Leben“. Nicht zu vergessen ist dabei der Dualismus, der diesem Lebensstadium innewohnt: Einerseits nabeln sich Teenager langsam ab, sie wollen Zeit außerhalb des Nestes verbringen und eigene Entscheidungen treffen, was ihre Lebensführung angeht. Andererseits sind sie finanziell noch sehr auf ihre Eltern angewiesen. Die Studie habe all das in ihre Recherchen mit einbezogen.

Auf der Cloche d’Or füllt sich der Platz vor dem Einkaufszentrum. Es wimmelt von grasgrünen Lacoste-Hemden, Hermès-Handtaschen und Nike-Polos. Melina, Alessandro und Romain sind auf dem Sprung, der Unterricht beginnt in zehn Minuten. „Es gibt schon eine Mode, an die alle sich ziemlich halten, auch wenn es teuer ist. Da entsteht ein ‚Pack‘-Effekt“, sagt Melina. Kürzlich war es eine Weste von The North Face, die jeder haben musste, das Modell Nuptse. Angestoßen wurde der Hype von Bella Hadid, J.Lo, Kendall Jenner und ihresgleichen. Kostenpunkt: 300 Euro (also etwa fünf Mal das monatliche Statec-Budget für Klamotten). Die Jacke gibt es übrigens seit den 90-er Jahren, damals trugen Jennifer Aniston, Halle Berry und Rapper LL Cool J die Daunenjacken in New York. Ein Verkäufer von A.S Adventure erzählt, sie seien sehr schwer zu bekommen, die Lagerbestände niedrig. Viele Jugendliche gäben sich mit einem ähnlichen, weniger modischen als sportlichen Modell, das etwa 150 Euro kostet, zufrieden. „Wenn einer was Cooles anhat, und es gefällt den anderen, löst es eine Kauf-Welle aus“, erklärt Alessandro. Und die Trends würden sich schneller abwechseln; vor zwei Jahren waren die Parajumpers-Dauenjacken der letzte Schrei, für die man 1 000 Euro auf den Tisch legen musste.

Früheres Schulpersonal erzählte dem Land zum Teil unfassbare Geschichten, was die Zustände im Lycée Vauban, Schule für Kinder reicher Expats, anbelangt. Eltern fragten etwa vor ein paar Jahren, ob sie ihre Tochter zum 18. Geburtstag zu ihrer genauen Geburtsuhrzeit aus dem Unterricht nehmen könnten, um ihr ihr Geschenk zu überreichen. Als ihnen entgegnet wurde, man könne nicht damit anfangen, Schüler zu willkürlichen Zeiten vom Unterricht freizustellen, und warum überhaupt, offenbarte sich, dass die Eltern ihrer Tochter, die übrigens noch keinen Führerschein hatte, einen Audi TT (ab knapp 40.000 Euro) im Schulhof präsentieren wollten. Er solle voller Schmuck sein, da sie ihn ja noch nicht fahren könne. Diese neureiche Unart, zu glauben, man könne sich alles erlauben, bloß weil man sich alles leisten kann, käme oft von Leuten, deren Kaufkraft in Luxemburg stark gewachsen sei, erfuhr das Land weiter. Menschen, die oft aufgrund ihrer Berufssituationen wenig Zeit für ihre Kinder hätten, und versuchten, diesen Umstand durch Geld zu mindern. Jedenfalls würden die Jugendlichen, die aus solchen Haushalten kommen, sich nicht mit den anderen vermischen. Darüber hinaus seien regelmäßig teure Winterjacken in Klassensälen gefunden worden, und niemand habe sie abgeholt. Ein Mysterium, bis sich herausstellte, dass diese – meist neuen, kaum getragenen – Gegenstände absichtlich verloren werden, damit die Eltern etwas Neues kaufen. Die Klamotten spendete die Schule später dem Roten Kreuz.

Die Fixierung auf Äußerlichkeiten fange früh an, mit zehn bis elf Jahren hätten viele Schüler schon sehr teure Smartphones. Ähnliche Probleme fänden sich in den Europaschulen in Mamer und Kirchberg und an der International School. Nun könnte man sagen: Extrembeispiele aus Privatschulen. Und sicherlich stimmt das – zum Teil. In den öffentlichen Schulen Luxemburgs fallen keine Schulkosten an und die Schülerschaft ist zumindest etwas heterogener. Dennoch, das Nacheifern von Influencer-Schimären dürfte in jeder Schule zugenommen haben. Auch im Stater Kolléisch werden 800-Euro Turnschuhe ge- und verkauft (d‘Land vom 27.09.2019).

Im offensichtlich Image-besorgten Lycée Michel Rodange wird abgewiegelt, was das Konfliktpotenzial der Markenkleidung und die Gefährdung der sozialen Kohäsion angeht. „Damit hatten wir seit Jahren keine Probleme“, sagt Claire Simon, Direktorin der Schule. Zugenommen habe dieses Phänomen auch nicht unbedingt. Man könne den jungen Leuten nicht sagen, was sie anziehen sollen. Natürlich würden manche eine Bluse von 50 und andere eine von 200 Euro tragen, aber das fiele nicht besonders auf. Vor ein paar Jahren sei eine Richtlinie an die Schülerschaft geschickt worden, allerdings ging es dabei um die Folgen eines Diebstahls. Den Schülern wurde darin ans Herz gelegt, keine teuren Dinge mit in die Schule zu bringen. Marc Dosser, stellvertretender Direktor des Stater Kolléisch, sagt Ähnliches: „Ich kann nicht ausschließen, dass es bei 1 600 Schülern auch mal zu einem Konflikt kommt, aber ein gravierendes Problem stellt es nicht dar“. Das sozioökonomische Profil der Familie sei in diesem Kontext auch weniger wichtig, als man denke. Im Technique treffe man auch auf viele Schüler, die teure Handys haben.

Jérôme legte vor ein paar Jahren sein Abitur am Lycée classique in Diekirch ab. Er berichtet, der Materialismus und die Fixierung auf Markenkleidung habe dort sehr wohl zugenommen, vor allem in den höheren Klassen. „Es wurde immer mehr Wert auf Sammler-Sneakers gelegt. Auch die Schüler, für deren Familien eine solche Ausgabe eine finanzielle Last darstellte, haben mitgemacht um dazuzugehören.“ Parajumpers, Moncler-Jacken, das Übliche. „Man definierte sich stark darüber. Meiner Meinung nach liegt das auch daran, dass man versucht andere Probleme dadurch zu kompensieren.“ Jérôme hat mittlerweile sein Studium fast abgeschlossen und sich distanziert. „Früher hatte ich auch das Gefühl, dass all das wichtig ist. Jetzt merke ich, es ist Blödsinn.“

Vorgaben, was die Schüler tragen sollen, gibt es an den öffentlichen Luxemburger Schulen nicht. „Dezent“ soll es sein, und das „bezeichne weniger den Preis als vielleicht eher, dass man nicht im Muskelshirt oder mit einem sehr kurzen Rock in den Unterricht kommen soll“, meint Véronique Igel, Italienisch-Professorin am Stater Kolléisch. Die Schuluniform, die vor allem im angelsächsischen Raum die Norm darstellt, sei vor ein paar Jahren im Lycée Vauban besprochen worden, erfuhr das Land. Eine schwarze Jeans, ein einfaches T-Shirt, nichts Verrücktes, inspiriert von der französischen Schule Winston Churchill in London. Die Schülerschaft zeigte sich skandalisiert; die Jüngsten gingen auf die Barrikaden. Bis in die Schulbehörde, wo Vertreter von Eltern, Schülern und Lehrpersonal sitzen und wo über wichtige Entscheidungen abgestimmt wird, habe diese Idee es nie geschafft.

Sarah Pepin
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