Die Probleme der Armee mit ihrem Sanitätsdienst verweisen auch auf strukturelle Schwächen

Die Armee des Auenlandes

d'Lëtzebuerger Land vom 14.04.2023

Wie jede militärische Truppe hat auch die großherzogliche Armee einen Sanitätsdienst. Ein Nato-Standard vom September 2019 sieht dafür Minimalkriterien vor. Er definiert die Fähigkeiten in vier Stufen (Roles). Role 1 stellt die sanitätsdienstliche Erstversorgung für Truppen im Gefecht sicher. Die drei anderen Stufen reichen weiter, bis hin zu Role 4 und einem Krankenhaus außerhalb des Einsatzgebiets. In Role 1 hingegen übernimmt ein mehrköpfiges Team unter Leitung eines Arztes neben Triage (Sichtung) und Erstdiagnose erweiterte lebensrettende Sofortmaßnahmen: Blutstillung, Schmerzbehandlung, Atemwegsmanagement, künstliche Beatmung und Kreislaufstabilisierung ähnlich einer Notaufnahme. Ziel ist die Stabilisierung des Patienten zum Weitertransport. Jede Sanitätseinheit, so auch ein luxemburgisches Role 1, muss denselben Grad an Einsatzbereitschaft aufweisen wie die Einheit, für die es zuständig ist.

Für Nato und EU stellt Luxemburg militärische Einheiten mit erhöhter Bereitschaft zur Verfügung. Doch über die Minimalvoraussetzungen im Sanitätsdienst, Role 1, verfügt die Armee nicht. Das geht unter anderem aus einem Tweet des stellvertretenden Generalstabschefs Pascal Ballinger vom 7. April 2022 hervor: „Deploying a Role 1 is still a dream for @ArmyLuxembourg… but we are working on it… It will probably not be feasable during this decade but we are going to try hard…“

Es fällt eine Inkohärenz auf zwischen diesem Tweet und folgender Passage im Jahresbericht 2021 des Außenministeriums: „En 2020, l’armée luxembourgeoise s’est engagée auprès de l’OTAN à mettre en place une ou plusieurs équipes chirurgicales déployables correspondant à la capacité ‚MED-ST‘ telle que définie dans le NATO105 Bi-Strategic Commands Capability Codes and Capability Statements du 22 janvier 2020. Ces équipes devront être déployables dès 2028 “1. MED-ST steht für medical surgical team. Einerseits also erklärt der stellvertretende Chef des Generalstabs auf Twitter, die Minimalanforderungen könnten wohl erst in einem Jahrzehnt erfüllt werden. Andererseits teilt das Außenministerium mit, dass Luxemburg der Nato für 2028 einsatzbereite feldchirurgische Teams zugesagt hat.

Die Nachfrage nach dem Konzept, beziehungsweise der Arbeitshypothese dafür wurde von der Verteidigungsdirektion im Außenministerium per E-Mail am 12. August 2022 mit dem Verweis auf Geheimhaltung abschlägig beschieden. Auch das Nato-Dokument, welches die Sanitätseinheit MED-ST an sich definiert, kann laut E-Mail der Pressestelle der Verteidigungsdirektion vom 17. August 2022 nicht zugänglich gemacht werden. Es dürfte sich hierbei um die militärische Variante des zivilen Samu (Notarzt) handeln: einen Arzt mit Zusatzausbildung in Notfallmedizin, einen Rettungsassistenten und einen Sanitäter. Der Begriff surgery teams ist jedoch auch bei Sondereinheiten gebräuchlich, die erweiterte medizinische Kapazitäten brauchen, weil sie hinter feindlichen Linien operieren. Verwundete müssen sie entsprechend länger versorgen, bis sie evakuiert werden können. Das für 2028 angekündigte belgisch-luxemburgische Aufklärungsbataillon, beziehungsweise seine Teileinheiten können durchaus auch hinter feindlichen Linien operieren und Bedarf an feldchirurgischen Fähigkeiten haben. Es liegt auf der Hand, dass die dabei von der Nato geforderte „Robustheit“ mit mehr Verlusten einhergehen kann. Belgische Sondereinheiten haben das Konzept der MED-ST in Mali und Afghanistan erprobt. Es bleibt die Frage, wie die Luxemburger Armee bis 2028 solche Fähigkeiten entwickeln will. Im Bereich Sanitätswesen ist die Entwicklung der großherzoglichen Truppe bislang überaus unbefriedigend.

So gab es längere Zeit keinen Truppenarzt in den Reihen der Armee. Die Stelle eines officier-médecin wurde im September vergangenen Jahres ausgeschrieben. Da niemand gefunden wurde, der alle Kriterien erfüllte, heuerte man einen Vertragsarzt an. Monate später sollte sich herausstellen, dass er in Belgien rechtskräftig verurteilt war, unter anderem wegen Delikten in Zusammenhang mit seiner ärztlichen Tätigkeit. Eine eigenständige Überprüfung des Bewerbers seitens der Armee hatte nicht stattgefunden: Vordergründig schien alles formal in Ordnung und der Vorgang war regelkonform abgelaufen, wie Verteidigungsminister François Bausch (Grüne) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) auf eine parlamentarische Anfrage der CSV-Fraktion wissen ließen. Eine Internetrecherche durch die Personalabteilung der Armee, wie sie bei zivilen Arbeitgebern heute zumeist üblich ist, hätte den Fehlgriff wohl vermieden. Am Ende setzten Hinweise aus einer anderen Verwaltung der Tätigkeit des Arztes ein Ende. Offensichtlich gelingt es der Armee, für hunderte Millionen Euro strategische Satellitenkapazitäten zu schaffen, aber sie scheitert zuverlässig an der Rekrutierung von Sanitätspersonal aller Qualifikationsstufen und daran, es in ihren Reihen zu halten.

Ein Dokument, anhand dessen man die Personalsituation und -fluktuation nachvollziehen könnte, wird im Jahresbericht 2021 des Außenministeriums erwähnt: „Les activités de l’Armée luxembourgeoise en 2021 font l’objet d’un rapport d’activités séparé.“ Trotz mehrfacher Nachfrage gelang es der Redaktion nicht, diesen eigentlich öffentlichen Aktivitätsbericht der Armee zu bekommen. Hingegen ergaben sich bei den Recherchen zu diesem Beitrag Hinweise, dass es eine auffällige Fluktuation im Sanitätsbereich der Armee gibt. Die Hintergründe sind offenbar vielfältig.

Unstrittig ist der allgemeine Mangel an medizinischem Personal im Land. Nicht genug damit: Im gesamten öffentlichen Dienst würden sich quasi keine einheimischen Ärzte mehr für freie Stellen melden, erklärte LSAP-Sozialminister Claude Haagen auf eine parlamentarische Anfrage der ADR. Die Einkommensunterschiede gegenüber freiberuflichen Medizinern seien zu groß. Was die Armee betrifft, reizt die Aussicht auf einen monatelangen Einsatz in einem Feldlager in Osteuropa oder in tropischen Regionen luxemburgische Ärzte offenbar nicht. Hinzu kommt, dass der Ärztemangel viele Alternativen zum Arbeitgeber Armee entstehen lässt.

Dies gilt auch für alle Arten von Paramedizinern. Neben dem Gehalt spielt bei ihnen allerdings auch eine gewisse Schizophrenie zwischen Ausbildung und Rechtslage eine Rolle: Die Tätigkeit der Paramediziner in Luxemburg wird durch das Gesundheitsministerium reguliert. Die Ausbildung insbesondere der Notfallsanitäter erfolgt dagegen im Ausland. Doch dort sind die Notfallkompetenzen der Paramediziner weiter gefasst als in Luxemburg. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Reihe so genannter actes médicaux Sanitätern hierzulande rechtlich nicht erlaubt sind. Darunter fallen zum Beispiel die Medikamentengabe, die Verabreichung von Sauerstoff sowie das Anlegen einer Infusion. Das darf nur auf Anweisung und unter Aufsicht eines Mediziners erfolgen.

Für die Armee gilt diese Regel auch. Und so zeigte ein Foto vom Tag der offenen Tür auf dem Herrenbeg im Juli vergangenen Jahres eher eine Wunschvorstellung als die Realität: Sanitäter, die Infusionen, Sauerstoff und Medikamente verabreichten, obwohl sie das selbstständig nicht dürfen. Ist es zielführend, Militärsanitäter unter den Friedensregeln eines zivilen Gesundheitsministeriums zu belassen?

Aber neben den äußeren Umständen führen offensichtlich noch eine inkohärente Personalpolitik sowie anachronistische Führungsgewohnheiten dazu, dass qualifiziertes medizinisches Personal mit zivilem, teilmilitärischem und militärischem Status entweder aus dem Sanitätsbereich versetzt wird, oder der Armee konsequent den Rücken kehrt. Angesichts der absehbar verlustreicheren Robustheit im Rahmen des künftigen binationalen Bataillons muss dem Sanitätsdienst im Denken der leitenden Militärs eine größere Bedeutung zukommen. Referenzrahmen hat die Gefechtsrealität zu sein und nicht Animositäten und Präferenzen im Rahmen einer Palastwache im tiefsten Frieden. Kein absehbares Szenario des Krieges in der Ukraine, beziehungsweise möglicher Folgekriege gibt Anlass, weiterzumachen wie bisher. Die Friedensdividende ist aufgebraucht; militärische Einsätze, so es dazu kommt, sind wieder Kriege. Tod und Verwundung werden für westliches Militär vom bedauerlichen Einzelfall zum potenziell vielfachen Schicksal. Die politische Klasse des großherzoglichen Auenlandes wagt es nicht, den Hobbits die neue geopolitische Wahrheit zu verkünden. Diese Wahrheit besteht darin, dass man sich nicht mit Geld für Waffen, Munition und Satelliten wird loskaufen können..

1 Jahresbericht 2021 des Außenministeriums (S. 106). https://gouvernement.lu/fr/publications/rapport-activite/minist-affaires-etrangeres-europeennes/maee/2021-rapport-activite-maee.html

Reiner Hesse ist Politikwissenschaftler und Soziologe.
Er hat über Militärpolitik und Militärsoziologie geforscht.

Reiner Hesse
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