Obwohl sie eine Ausgangssperre verhängen ließ, versucht die Regierung noch immer, an die Eigenverantwortung der Bürger/innen zu appellieren. Und sich selbst als führungsstark darzustellen, denn die Infektionen werden zunächst weiter steigen

Ëm eelef ass Zapestreech

d'Lëtzebuerger Land du 30.10.2020

Am Mittwochnachmittag gegen 15.10 Uhr wurde im Plenum der Abgeordnetenkammer ein Polit-Stück gespielt, wie es nicht oft zu erleben ist. Die Abstimmung über die Änderungen am Covid-Gesetz stand auf der Tagesordnung, mit der Ausgangssperre und der neuen „Vierer-Regel“. Doch der Gesundheitsausschuss war mit der Diskussion des Gesetzentwurfs noch nicht fertig, denn der Staatsrat hatte sein Gutachten dazu kaum drei Stunden zuvor verabschiedet und verlangte einige Nachbesserungen. Worauf die Opposition aus CSV, ADR, Linken und Piraten sich dafür aussprach, den Gesetzentwurf im Ausschuss fertig zu besprechen, Berichterstatter Mars Di Bartolomeo (LSAP) seinen Bericht schreiben zu lassen und anschließend mit halbwegs klarem Kopf im Plenum darüber abzustimmen. Und sei das erst am Donnerstag.

Bemerkenswert war, dass LSAP-Fraktionschef Georges Engel das genauso sah, er sprach aber nur für sich „persönlich“. Grünen-Fraktionschefin Josée Lorsché äußerte die gleiche Ansicht, die aber die ihrer Fraktion zu sein schien. DP-Fraktionspräsident Gilles Baum dagegen hätte lieber die laufende Sitzung des Kammerplenums unterbrochen, den Gesundheitsausschuss für noch ein paar Stunden zusammentreten lassen und notfalls spätabends über die Gesetzesänderung abgestimmt: Die Ausgangssperre solle schon am Donnerstag um null Uhr in Kraft treten. Statt im Kampf gegen die Corona-Pandemie geeint noch einen Zahn zuzulegen, schien die Regierungsmehrheit für ein paar Minuten einer Koalitionskrise entgegenzusteuern. Di Bartolomeo rettete den Tag. Schlug vor, den Gesundheitsausschuss eine Stunde weiterberaten zu lassen, zu schauen, ob das reicht, und gegebenenfalls erst am nächsten Tag über das Gesetz abzustimmen. Auch in einer Pandemie müsse der Gesetzgeber saubere Arbeit leisten, dozierte der Ex-Parlamentspräsident. Und baute damit Gilles Baum und der DP eine Brücke, um sich allen anderen anschließen zu können.

Wieso es der liberalen Fraktion so wichtig war, so schnell wie nur irgend möglich ein Gesetz wirksam werden zu lassen, das immerhin die erste nächtliche Ausgangssperre seit dem Zweiten Weltkrieg einführt, liegt auf der Hand: Die Regierung steht in der Öffentlichkeit unter Verdacht, dem Corona-Geschehen in letzter Zeit zu lange zugeschaut zu haben. Mit Bildungsminister Claude Meisch ist ein DP-Minister besonders unter Beschuss. Seit einer Woche muss er sich von Lehrergewerkschaften anhören, sein Corona-Stufenplan für die Schulen reiche nicht. „Übernehmen Sie endlich Verantwortung, ehe es zu spät ist!“, postete die der DP nicht fernstehende Feduse/CGFP am Sonntag auf Facebook an Meischs Adresse.

Und natürlich muss der Premier sich Sorgen machen um sein Image als Kapitän, das er in der Krise viel mehr pflegt als sonst. In letzter Zeit hat das nicht so gut funktioniert. Erst eilte Xavier Bettel am Samstag vor zwei Wochen medienwirksam von einem EU-Gipfel zu einem außerplanmäßigen Regierungsrat in Senningen. Von dort hieß es am Ende, „alles unter Kontrolle“ und „jetzt ist nicht der Zeitpunkt für einschneidendere Maßnahmen“. Appelliert wurde zunächst an die Eigenverantwortung der Bevölkerung, die die gestes barrières ja verinnerlicht haben muss. In den Tagen danach aber wurde es ungemütlich, epidemiologisch wie politisch. Die Zahlen der Neuinfizierten erreichten Rekordhöhen, in den Nachbarländern begannen Diskus-sionen über neue Lockdowns. So kam es, dass der Regierungsrat, der eigentlich abwarten wollte, dass die Eigenverantwortung der Menschen griffe und von Xavier Bettel vor zwei Wochen darauf vorbereitet worden war, dass „erst einmal“ mit weiteren Fällen zu rechnen sein werde, am vergangenen Freitag entschied, bis Ende November eine nächtliche Ausgangssperre zu verhängen. So ähnlich wie 1940: Am 10. Mai 1940 führte die Nazi-Besatzungsmacht ein militärisches Ausgangsverbot für Zivilisten nach 22 Uhr ein, ab 23 Uhr war Polizeistunde.

Der historische Vergleich ist nicht unbedingt perfide. Damals wollten die Besatzer in Luxemburg nachts keine Zivilisten auf der Straße haben, die Botschaft war klar. Dagegen ist der Zapestreech, der nun gilt, weniger leicht einzusehen: Im Grunde appelliert die Regierung noch immer an die Eigenverantwortung der Menschen, diesmal nur deutlicher und unter Androhung eines Strafgelds. Aber was heißt Ausgangssperre: Hunde Gassi zu führen, ist erlaubt. Mal vor die Tür zu gehen, um frische Luft zu schnappen, auch. Und bei aller Entschlossenheit, Führungsstärke zu demonstrieren, kam es der DP darauf an, die Gastronomiebranche nicht über Gebühr zu belasten. Dass die LSAP sich hätte vorstellen können, Restaurants und Cafés schon um 22 Uhr zu schließen, wurde Anfang der Woche publik. Der Staatsrat schrieb ganz zu Recht in seinem Avis: Man könne die neuen Einschränkungen entweder danach beurteilen, ob sie zu weit gehen, oder nicht weit genug.

Das muss sich im wahrsten Sinne des Wortes zeigen. Nachdem Xavier Bettel und Paulette Lenert nach der Kabinettsitzung vom 17. Oktober nur einen „toilettage“ des Covid-Gesetzes angekündigt hatten, der nicht dringend sei, wurden seit Mitte vergangener Woche nicht nur Rekordhöhen an Neuinfizierten gezählt. Noch schlimmer war, dass es am Centre hospitalier de Luxembourg, in den Schuman-Spitälern und an der Niederkorner Klinik des Centre hospitalier Emile Mayrisch Covid-Ausbrüche gab. Dass offenbar nicht einmal Spitäler mit ihrer professionell betriebenen Hygiene in Luxemburg sicher sind vor Sars-CoV-2, war unerhört. Da war es auch nur eine Frage der Zeit, bis die größte Oppositionspartei, die nach wie vor auf der Suche nach Themen ist, Covid-19 aufgriff wie schon auf ihrem Parteikongress am 17. Oktober. Als für die CSV-Kammerfraktion am Montag dieser Woche Claude Wiseler zum Morgeninterview ins Radio 100,7 ging, dort staatsmännisch erklärte, was er alles anders gemacht hätte als Xavier Bettel, und die CSV auch den Druck auf Claude Meisch erhöhte, war für die DP endgültig dringender politischer Handlungsbedarf gegeben. Wenngleich auch die CSV nur mit Wasser kocht: Ihre Frak-
tionschefin Martine Hansen fand vor zwei Wochen genau wie ihre grüne Amtskollegin Josée Lorsché im „Riicht eraus“ im Radio 100,7: „Für drastischere Maßnahmen beteht kein Bedarf.“

Vergangenes Wochenende aber erhielt die Regierung Modellierungen zum mittelfristigen Infektionsgeschehen, die nun von einer „exponentiellen“ Zunahme sprechen und in vier Wochen bis zu 1 400 neue Infektionen pro Tag nicht ausschließen. Vor allem aber erreichten die Regierung beunruhigende Nachrichten aus den Virustests am Abwasser. Paulette Lenert hatte am Mittwoch vergangener Woche schon erwähnt: Die Abwassertests zeigten, dass das Virus „überall ganz präsent“ sei. Unerwähnt ließ sie, dass die Resultate der Abwasseranalysen den amtlich registrierten Infiziertenzahlen stets um drei bis vier Tage vorauseilen. Sonst hätte sie hinzufügen müssen, dass die Infektionen weiter zunehmen werden und damit sich und die Regierung schon Mitte letzter Woche in Zugzwang gebracht. Nur ein paar Tage, nachdem der Premier die Bevölkerung an ihre Eigenverantwortung erinnert, aber auch erklärt hatte, in Luxemburg sei die Lage eine andere als in Belgien, und dass die Zahlen erst einmal weiter zunehmen würden. Fragte sich nur, bis zu welchem Punkt.

Dass die Regierung vor einer Woche weitere Maßnahmen einzuführen beschloss, hat viel mit einem Update der Abwasseranalysen zu tun. Seit Mitte dieser Woche veröffentlichen das Luxembourg Institute of Science and Technology (List) und das Wasserwirtschaftsamt die Abwasser-Coronaberichte unter www.list.lu/en/covid-19/. Der Bericht Nummer 15, der die Woche vom 19. Oktober zum Gegenstand hatte und dem Regierungsrat am Freitag vorlag, schätzte die Viruspräsenz im Abwasser vier Mal höher als zur Spitzenzeit Ende März gemessen wurde. Hinzuzufügen wäre, dass am Dienstag dieser Woche ein weiterer Bericht herauskam, denn das List nimmt die Analysen nun zweimal wöchentlich vor. In diesem jüngsten Papier mit der Nummer 16 liegt die Viruspräsenz im Abwasser acht Mal höher als im März.

Die Zusammenhänge mit dem Abwasser sind eigentlich simpel: Wer mit dem Coronavirus so stark infiziert ist, dass dieses sich vermehren kann, scheidet mit jedem Gang zur Toilette Virusreste aus. Ein List-Team fahndet nach dieser Virus-RNA mit ganz ähnlichen PCR-Tests wie biomedizinische Labors auf Rachenabstrichen. Der Unterschied dabei: Ehe jemand sich auf Sars-CoV-2 testen lässt, vergeht Zeit. Es müssen sich Symptome zeigen, ein Besuch beim Arzt beschlossen werden, der den Test verschreiben muss. Der muss dann vorgenommen, analysiert und ein positives Resultat gemeldet werden. Deshalb ist Virus-RNA im Abwasser ein schnellerer Indikator. Und wenn er weiterhin zutrifft wie bisher, werden die amtlich gemeldeten Infiziertenzahlen weiter zunehmen. Trotz Ausgangssperre. Vorerst.

Keine einfache Situation. Zumal, wenn die Nachbarländer wesentlich weiter gehen. Aber wie schon im März ist in Luxemburg nun wieder die Rede von dem knappen Personal in den Krankenhäusern. Und davon dass rund zwei Drittel der Pfleger/innen im Ausland wohnen und sich damit weniger die Frage stellt, ob Luxemburg genug Intensivbetten und Beatmungsapparate hat, sondern genug qualifiziertes Personal dafür. Wieder schwebt das Angstszenario im Raum, die Nachbarländer könnten ihre Gesundheitsberufler beschlagnahmen.

Noch sei die Situation in den Krankenhäusern „unter Kontrolle“ versicherte Gesundheitsamts-Direktor Jean-Claude Schmit am gestrigen Donnerstag gegenüber L’Essentiel. Die Spitäler nicht zu überfordern, ist nun ähnlich wie im Frühjahr die sozusagen nationale Aufgabe geworden. Damals aber hatte Luxemburg es wie die Nachbarländer mit „importierten“ Infektionen zu tun – etwa aus Skigebieten. Heute dagegen diffundiert das Coronavirus allmählich in die Bevölkerung. Kontakte nachzuverfolgen, wird bald unmöglich. Während der Gesundheitsamtschef im Sommer 60 Neuinfektionen pro Tag für durch Contact Tracing beherrschbar hielt, sind es nun dank Personalaufstockungen etwa 250, doch auch davon ist Luxemburg mittlerweile weit entfernt. Will man das Virus niedrig halten, was stets eine politische Frage ist, bleiben nur Einschränkungen – bis hin zu einer erneuten Kollektiv-Quarantäne.

Peter Feist
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