Mit seiner Politshow „De Premier no bei dir“ will Xavier Bettel den Gemeindewahlkampf beeinflussen. Beim Auftakt in Limpertsberg überließ er seiner Freundin Corinne Cahen die Bühne

Zozialliberal

d'Lëtzebuerger Land vom 19.05.2023

Limpertsberg Die Regenwolken haben sich verzogen, die allmählich einsetzende Abenddämmerung taucht das bürgerliche Hauptstadtviertel Limpertsberg an diesem frühen Freitagabend in ein weiches Licht. Während die Läden schließen, genießen die Menschen in den Weinbars und Cafés ihren Feierabend. In Limpertsberg liegt der Quadratmeterpreis für eine Wohnung bei 14 000 Euro, hier wohnen vor allem ältere Menschen und junge Familien mit Kindern, der Anteil an Luxemburger/innen und Nicht-Luxemburger/innen, die in den Wählerlisten eingetragen sind, ist verhältnismäßig hoch. Angestellte privater Sicherheitsfirmen und Streetworker sind in den Straßen nicht zu sehen, Armut, Kriminalität und Unsicherheitsgefühl nur selten ein Thema. Vor dem Kulturzentrum Tramsschapp unterhalten sich drei Polizist/innen, als eine schwarze Limousine vorfährt. Aus steigt Premierminister Xavier Bettel in Begleitung seines Bodyguards. Er grüßt freundlich und schnellt die Stufen zum Kulturzentrum hoch. „Wéi geet et? Alles an der Rei?“ Er schüttelt Hände und umarmt eine ältere Dame. Viele Männer sind genauso gekleidet wie er: Ein dunkles Sakko, darunter ein weißes oder hellblaues Hemd, den oberen Knopf geöffnet. Manche variieren die Uniform der DP mit einer Krawatte oder einem Halstuch, andere haben das Hemd durch ein T-Shirt oder das Sakko durch eine Weste oder einen Wollpullover ersetzt. Unter Leuten fühlt sich Xavier Bettel wohl. „De Premier no bei dir“, heißt die Veranstaltung, mit der er vor den Gemeindewahlen für sich wirbt. Am Montagabend war er in Düdelingen, bevor er am Dienstag zum Gipfel des Europarates nach Reykjavik flog. Nächste Woche fährt er nach Grevenmacher und Lipperscheid. Kandidat bei den Gemeindewahlen ist er nicht, doch als liberale Lichtgestalt will er den kommunalen Wahlkampf beeinflussen, der in diesem Superwahljahr wie selten zuvor von den Nationalwahlen im Oktober überschattet wird.

Xavier Bettel ist überpünktlich. Als er eintrifft, ist der Saal noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Nach und nach trudeln Kandidat/innen ein, die für die DP in den Gemeinderat der Stadt Luxemburg einziehen wollen. Gemeinsam posieren sie mit ihrem Premierminister und Finanzministerin Yuriko Backes für Fotos, die die Partei am nächsten Tag zu Werbezwecken auf Facebook und Instagram veröffentlichen wird. Als die Fotosession beendet ist, füllt sich der Saal. Rund 100 Leute wollen den Premier an diesem Freitagabend sehen. Die allermeisten von ihnen sind DP-Mitglieder. Nach einem kurzen Einspieler bittet der junge Moderator die Lokalmatadorin Lydie Polfer auf die Bühne. „Mir si sou frou mat dir“, huldigt sie ihrem Vorgänger (und einst auch indirektem Nachfolger) im Bürgermeisteramt und würdigt die Verdienste Bettels während der Corona-Pandemie und der Energiekrise: „Jo, du kanns stolz op dech sinn, mir sinn op alle Fall ganz houfreg op dech“, sagt Polfer.

Bête politique Keine Partei tritt am 11. Juni mit mehr Listen an als die DP. Der hohe Zulauf hängt sicherlich damit zusammen, dass die Partei seit zehn Jahren in der Regierung ist und den Premierminister stellt. Macht zieht Menschen an, die danach streben. Ihren Erfolg hat die DP aber vor allem Xavier Bettel zu verdanken. Noch nie zuvor stellte sie zwei Legislaturperioden hintereinander den Regierungschef. Auch nach zehn Jahren bekundet Bettel, „nach ëmmer voll motivéiert a voller Energie“ zu sein. Bettel ist eine bête politique, die in Luxemburg ihresgleichen sucht. Das stellte er am Freitagabend im Tramsschapp erneut unter Beweis.

Sein Auftritt beginnt mit tosendem Applaus. Sein Diskurs ist seit Monaten derselbe: „Et war net einfach, awer ech beschwéiere mech net.“ Er preist die Vorzüge und Freiheiten des vereinigten Europas und redet von Multikrisen, die er lösen musste: Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit, Covid-19-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise. Luxemburg habe besser abgeschnitten als andere europäische Staaten: die Coronamaßnahmen seien weniger streng gewesen, den Bürger/innen und Betrieben habe die Regierung großzügig geholfen. Dank des Sozialdialogs und drei Tripartiten sei die Inflation heute die niedrigste in der Eurozone.

Der Arbeitszeitverkürzung erteilt de Premier mit klassisch wirtschaftsliberalen Argumenten eine klare Absage. Weniger arbeiten, um mehr zu verdienen, klinge erst einmal gut; 99 Prozent der Menschen würden sich das wünschen, behauptet Bettel. Doch wenn er ihnen erzähle, dass eine Arbeitszeitreduzierung von zehn Prozent die Produktionskosten und das Verkehrsaufkommen um zehn Prozent erhöhe, zehn Prozent mehr Wohnungen gebaut werden, Betriebe aus Rentabilitätsgründen schließen müssten und Arbeitsplätze verloren gingen, würden sie ihre Meinung ändern. Statt einer allgemeinen Arbeitszeitreduzierung sei die DP für Flexibilisierung, die in den Betrieben verhandelt werden müsse.

Er verteidigt die von DP-Bildungsminister Claude Meisch initiierten öffentlichen internationalen Schulen, die die Chancengleichheit erhöhten, und kritisiert CSV-Spitzenkandidat Luc Frieden, weil der die Steuern senken, den Wohnungsbau massiv subventionieren und gleichzeitig die Staatsschuld unter 30 Prozent halten will: „Et kann een en Euro net véier Mol ausginn.“

Der Forderung von LSAP, OGBL und Linken, Kapitaleinkünfte höher zu besteuern, um im Gegenzug die Bürger/innen steuerlich zu entlasten, lehnt Bettel ab: Die Betriebe kämen nicht wegen des Wetters nach Luxemburg, sondern wegen der Stabilität und Sicherheit und selbstverständlich aus Rentabilitätsgründen – sprich wegen der Steuervorteile.

Zum Abschluss hält der Premierminister noch eine Geschichtsstunde: Weil Luxemburg im 19. Jahrhundert so arm war, sei ein Drittel der Bevölkerung nach Amerika ausgewandert. „De Räichtum ass réischt komm, wéi mer op gaange sinn. Als éischt iwwer d’Wellen. RTL, d’Onden. Dann och mam, mam, mam ... Stol. Mat der Arbed.“ Im Stakkato fährt er fort: „Dann och mat de Banken, mat de Fongen, mat de gringe Fongen, mat de Satelitten.“ Luxemburgs Erfolgsgeheimnis habe immer darin bestanden, den anderen einen Schritt voraus zu sein.

Flügelkämpfe Mit den Gemeindewahlen hat das alles wenig zu tun. Auch von den Fragen, die das Publikum stellen darf, fällt nur die über gestiegene Kriminalität in der Hauptstadt teilweise unter kommunalpolitische Kompetenz. Die anderen drehen sich um Work-Life-Balance, die Deckelung des Index, die Bedingungen zur Einstellung von Menschen mit einer Behinderung sowie die öffentliche Betreuung von Kindern und älteren Menschen. Sie wirken wie zugeschnitten auf Familienministerin Corinne Cahen, die wegen eines anderen Termins später kommt und nicht mit auf das Gruppenfoto kann. Im zweiten Teil seiner Show überlässt Xavier Bettel seiner Jugendfreundin die Bühne. Seit sie vor einem Jahr angekündigt hat, Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg werden zu wollen, muss Corinne Cahen sich mit Lydie Polfer und deren Gefolgschaft in der Stater DP auseinandersetzen, die ihr Territorium verteidigen wollen. Im Dezember haben sie verhindert, dass Cahen Spitzenkandidatin wird (d’Land, 16.12.2022). Wie Bettel hat Cahen ein sozialeres und ökologischeres Profil als die alteingesessene „Iron Lydie“, die gemeinsam mit der CSV einen Law-and-Order-Wahlkampf führt. Bettel selbst hat sich zu dem geplanten Bettelverbot, dem Einsatz von privaten Sicherheitsfirmen und den Forderungen nach einer kommunalen Polizei bislang nicht geäußert. Als er am Freitag auf die mutmaßlich hohe Kriminalität angesprochen wird, führt er einzig die comparution immédiate als mögliche Maßnahme an. Danach gibt er dem Verkehrsschöffen und Ko-Spitzenkandidaten Patrick Goldschmidt das Wort. Fast alle anderen Fragen beantwortet Corinne Cahen. Lydie Polfer, die direkt vor ihm in der ersten Reihe sitzt, bezieht Bettel nicht mit ein. „De Premier no bei dir“ wirkt wie eine perfekt inszenierte Show, die es Xavier Bettel und Corinne Cahen erlaubt, die DP als „zozialliberal“ Partei darzustellen. Schon zu Beginn der Veranstaltung hatte Bettel an der Ausrichtung der DP keinen Zweifel gelassen: „Mir si ganz sozial, et ass an onser DNA.“

„Ech héieren ëmmer méi, de Staat, de Staat, de Staat, de Staat muss. Neen, ech sinn net den, dee seet, de Staat kënnt fir alles op. De Staat hëlleft, de Staat gräift an, de Staat encouragéiert (...) mee de Staat ass keng Kasko-Assurance“, meint der Premierminister zur Work-Life-Balance. Dann bittet er die „Spezialistin“ Corinne Cahen auf die Bühne, die überrascht tut („dat war lo net geplangt“): „Mir mussen an de Betriber kucken“, sagt sie, in 99 Prozent der Unternehmen seien die Mitarbeiter sich einig und versuchten, sich gegenseitig zu helfen. „Wann et dem Betrib gutt geet, geet et de Leit gutt, an ëmgedréint.“

Einem Arbeitsuchenden mit eingeschränkter Mobilität, der sich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen fühlt, rät Cahen, bei Vorstellungsgesprächen seine potenziellen Arbeitgeber darüber zu informieren, dass der Staat „alles bezillt fir eng Adaptation du poste de travail“ und Stellen für Menschen mit einer Behinderung staatlich subventioniert werden. Viele Betriebe wüssten das nicht.

Neel mat Käpp Ein junger Expat hat mit Obdachlosen geredet, die ihm erzählten, ohne Wohnung fänden sie keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung. Wie die DP ihnen einen Ausweg aus diesem Teufelskreis bieten kann, will der Mann wissen. „Wir müssen mehr und dichter und vor allem kleiner bauen“, sagt Corinne Cahen. Den Obdachlosen gibt sie praktische Tipps: Sie sollten sich beim Sozialamt einschreiben, um eine adresse de référence zu bekommen. Dann könnten sie auch Arbeit finden. Xavier Bettel schlägt vor, „ganz vill Appartementer ze bauen, déi mer fir zéng Joer mat subventionéiertem Loyer verlounen u Jonker tëscht 20 an 30 Joer“. Um ganz viel zu bauen, müsse der Staat aber die Baufirmen unterstützen und auch mit den Banken reden, damit Immobiliendarlehen trotz hoher Kreditzinsen wieder vergeben würden: „D’DP probéiert am Logement Neel mat Käpp ze maachen.“

Hochdramatisch ist der Beitrag einer Lehrerin, die „seit 30 Jahren“ unterrichtet. Sie berichtet von Kindern in den Maisons relais, „déi Dag fir Dag leiden“, weil ihre Eltern sich nicht um sie kümmern, und von Schulen, die unter der Organisation der gratis Kinderbetreuung leiden. Sie berichtet auch vom Leiden der Menschen in Alten- und Pflegeheimen. „Et sinn der, déi ginn d’Leit einfach do of wéi an en Déierenasyl.“ Sie selbst sorge sich nicht nur um ihre eigene Mutter, sondern auch um andere Kranke und Gebrechliche in dem Pflegeheim. Menschen, die sich aufopferungsvoll um ihre Familie kümmern, sollten einen Verdienstorden bekommen, fordert die Frau. Das Publikum ist tief berührt von dem kathartischen Beitrag.

Xavier Bettel nutzt die Gelegenheit, um über seine Besuche bei seiner eigenen Mutter im Altersheim zu berichten. Er finde es normal, dass man sich um seine Familie kümmere, eine Medaille brauche er dafür nicht. „Et ass wichteg, dass mer déi Momenter vu Solidaritéit, den Echange tëscht de Bierger och héichhalen“, meint der Premierminister und leitet daraus einen nationalen Solidaritätsbegriff ab: „Den Egoismus ass eng natierlech mënschlech Komponent“, doch „wann et em d’Wurscht geet, halen d’Lëtzebuerger zesummen“. Corinne Cahen wirbt ihrerseits für ihren Gesetzentwurf zur Reform des Pflegewesens, der an der Copas scheitere, die Qualitätskriterien für Betreuungseinrichtungen ablehne. Gleichzeitig erinnert sie daran, dass es noch trauriger sei, wenn Se-
nior/innen alleine zuhause leben und auf Pflegedienste angewiesen sind. In Altenheimen könne den Menschen wenigstens ein Lebensprojekt für ihre letzten Jahre angeboten werden. Um den Personalmangel zu beheben, müsse wieder positiver über den Beruf des Altenpflegers geredet werden. Anstatt sich über Schicht- und Nachtarbeit zu beklagen, solle das Personal sich bewusst werden, dass es „dee schéinste Beruff“ habe, weil „een anere Leit kann hëllefen“. Um mit den Worten zu schließen: „Mir mussen eise Kanner rëm Wäerter bäibréngen, an eiser Gesellschaft, déi ëmmer méi divers gëtt.“

Am Ende Corinne Cahen kann Xavier Bettels Unterstützung im Wahlkampf gut gebrauchen. Mit ihrer Entscheidung, bei den Gemeindewahlen zu kandidieren, hat sie politisch alles auf eine Karte gesetzt. Verpasst sie den Einzug in den Schöffenrat, wäre es für sie eine Blamage. Wird sie nicht einmal in den Gemeinderat gewählt (was allerdings sehr unwahrscheinlich ist), wäre ihre politische Kar-riere vorbei. In jedem Fall muss die DP spätestens nach den Gemeindewahlen eine neue Familienministerin finden. Von den drei Frauen in der Kammerfraktion käme nur Carole Hartmann in Frage, doch sie tritt im Ostbezirk an, wo die DP traditionell stark ist, und sie spielt eine wichtige Rolle in der Echternacher Lokalpolitik. Schwach ist die DP seit dem Rücktritt von Pierre Gramegna im Südbezirk. Gramegna wurde durch Yuriko Backes ersetzt, die im Zentrum kandidiert; dem Süden steht demnach noch ein Mandat zu. Deshalb könnte Max Hahn ein Anwärter auf Cahens Ministeramt sein, doch der will in Dippach wieder Schöffe werden. 2018 war die nächstgewählte Frau auf der Südliste Barbara Agostino, die vor einem Jahr von der Hauptstadt in die Gemeinde Petingen umgezogen ist. Dort ist die Ehefrau der grünen EU-Abgeordneten Tilly Metz und frühere Kindertagesstättenbetreiberin zwar Spitzenkandidatin bei den Kommunalwahlen, doch sie hat auch nationalpolitische Ambitionen (d’Land, 21.04.2023). Sollte Hartmann oder Hahn Minister werden, könnte Agostino in die Kammer nachrücken, falls Corinne Cahen sich auch aus dem Parlament zurückzieht. Sollten die beiden Abgeordneten verzichten, wäre Agostino wohl die heißeste Anwärterin auf das Amt der Familienministerin.

Luc Laboulle
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