Pandemien und Verschwörungstheorien

Bas Schagen, Bill Gates und kannibalische Hexen

d'Lëtzebuerger Land du 22.01.2021

Ende der 1990er-Jahre waren fast alle Familien Westugandas von der Aids-Epidemie betroffen – der Tod beherrschte das Leben. Als die Ethnologin Heike Behrend 1997 nach Toroo kam, herrschte ein Verleugnungsklima und große Verwirrung in der Region, die Behrend in ihrem Buch Menschwerdung eines Affen beschreibt. Zwar wurde die Realität des Virus nicht gänzlich geleugnet, doch für die Einwohner stand fest: Dieser Tod konnte nicht natürlich sein – kannibalische Hexen hatten ihn zu verantworten. Die biomedizinische Ursache wurde überlagert durch Erklärungen der so-zialen Missverhältnisse; ausschlaggebend waren nicht mehr Viren, sondern übelgesinnte Verwandte oder Nachbarn, die die Betroffenen verhext und dazu gebracht hätten, mit Infizierten zu verkehren und folglich zu sterben. Die durch Verhexung getöteten Opfer würden nach der Beerdigung wieder auferstehen, um dann von Kannibalen verspeist zu werden, so die Annahme.

In der Figur der kannibalischen Hexe wird die Nachtseite sozialer Netzwerke verhandelt. Gerade eine Krankheit wie Aids mit einer langen Inkubationszeit und zumeist unspezifischen Symptomen eignet sich dabei besonders, um im Register der Hexerei interpretiert zu werden. Ein symbolisches Interpretationsmuster, das angesichts der gefühlten Bedrohung die Pforte für Misstrauen und Gewalt vor allem gegenüber Personen öffnet, auf deren Solidarität es ankommt. Die Menschen suchen nach Erklärungen für Ungleichheit, Leid und Tod, bringen dabei aber Idiome ins Spiel, die soziale Spaltungseffekte und Desintegration verstärken.

Wer bei hiesigen Corona-Verschwörungsblogs vorbeischaut, dem fällt die destruktive Sozialkraft auch dieser Ideologie auf. Wie bei den Ugandern in Behrends Fallstudie dreht sich bei den Verschwörungserzählern wenig um konstruktive Lösungen, sondern eine Vielzahl an Inhalten befasst sich mit bedrohlichen Mächten: der Lügenpresse, den Pharmakonzernen, 5G-Strahlen. Die maximale Bedrohung geht zumeist von Microsoft-Gründer Bill Gates aus, der seit einigen Jahren in die Impfstoffentwicklung investiert; so hieß es in einem Facebookpost: „De Bill Gates gehéiert gehaangen!!!! Hien as SATAN!!!“ (2.1.2021) Die Verwandten und Nachbarn sind allerdings keine Initiative ergreifenden Hexer wie in Westuganda, doch sie machen sich den Verschwörungserzählern zufolge mitschuldig, weil sie passive „Schlafschafe“ und dem Stockholm-Syndrom verfallen seien, sprich eine Allianz mit ihrem Sklavenhalter eingehen – so sieht es jedenfalls ein umtriebiger Verschwörungsaktivist aus Luxemburg.

Laut dem Religionswissenschaftler Michael Blume lohnt es sich, Verschwörungsglauben als religiöses Phänomen zu analysieren. Charakteristisch für Verschwörungsmythen sei, dass kein wohlwollendes Gottesbild im Zentrum steht, sondern umgekehrt die ganze Welt von einer bösen Macht regiert wird. Und Verschwörungsgläubige deuten ihre Welt nach einem Muster, das die angebliche Macht des Bösen immer wieder bestätigt.

Covid-Verschwörungserzähler betrachten sich als die Erwachten, die hinter die Kulissen sehen, geheime Pläne durchschauen, während die Normalbürger Täuschungen erliegen. Doch auch bei ihnen spielt Sinngebung und die soziale Dimension eine zentrale Rolle, wie im Falle von Hexerei-Beschuldigungen. Die Verschwörungsbewegung QAnon kommuniziert dies bereits durch ihr Motto, unter dem sich die Gruppierung vereint: WWG1WGA („Where We Go One We Go All“). Unter anderem dieser gemeinschaftsdynamische Aspekt erkläre, warum das rationale Gegenargumentieren häufig ins Leere läuft, behauptet Michael Blume, Autor von Verschwörungsmythen (2020).

Diese Grammatik der hochgradig affektgetriebenen Weltdeutung erklärt vermutlich überdies, weshalb es wenige Verschwörungsgläubige stört, dass ihre Verschwörungserzähler dürftig begründete „Evidenzen“ ins Feld führen, zusätzlich vermischt und zusammengebastelt mit Gerüchten. Denn das Evozieren von Studien, Ärzten und großen Spezialisten, das Feuerwerk an Fußnoten, Links und neon-gelb markierten Sätzen soll nicht zu einer Debatte beitragen, sondern endet letztlich mit der Verkündung, dass man die „wahre Wahrheit“ erkannt habe – eine Wissenschaftsmimesis, die das Anliegen der Wissenschaft allerdings in ihr Gegenteil verkehrt: Statt im Austausch mit Fachkollegen Argumente, Interpretationen oder Modelle zu prüfen, werden unter Verschwörungsideologen im affirmativen Modus Bausteine hin und her gereicht, die ihr Weltbild bekräftigen.

Sowohl in Uganda als auch in Luxemburg informieren staatliche Aufklärungskampagnen über die Übertragung des Virus. Trotzdem (oder deswegen) etablieren sich Gegendiskurse und wird das Schutzmittel in sein Gegenteil verklärt: Ende der 1990er zirkulierte in Uganda die Annahme, Europäer würden das Virus über infizierte Kondome in der Gesellschaft verbreiten, um Afrikaner zu töten und deren Reichtum zu kapern. Unter dem Slogan „Gib Gates keine Chance“ protestieren heute Impfgegner gegen die Corona-Impfungen, durch die Gates die Weltherrschaft an sich reißen wolle. Auf Facebook verkündet eine Verschwörungsmultiplikatorin aus dem Kanton Echternach, das Maskentragen würde zu Zellschäden führen.

Tatsächlich ist das Misstrauen gegenüber westlicher Medizin in Uganda nicht unbegründet – und das gegenüber europäischer Dominanz, historisch betrachtet, überaus nachvollziehbar. Die Region Rakai und Masake hatte Präsident Musevini aufgrund einer autoritären Entscheidung in den 1990-ern für medizinische Versuchsprogramme freigegeben, und zur Kenntnis nimmt man die Weigerung der westlichen Pharmaindustrie, Generika günstig auf den afrikanischen Markt zu bringen, schreibt Heike Behrend. Der pharmazeutische Weltmarkt vermittelt ganz unverblümt: Afrikanisches Leben ist weniger wert als das im zahlungskräftigen Norden.

Auch ist es nicht falsch, gelegentlich Presse- und Regierungsmitteilungen zu hinterfragen oder auf die Macht der Tech-Elite hinzuweisen. Berechtigte Kritik und nuancierte Analysen lassen sich in Verschwörungsnarrativen jedoch kaum ausmachen, stattdessen zerfranst der Verschwörungsmonolog in einer Abfolge an Behauptungen. So lud der ehemalige RTL- und DNR-Animateur Bas Schagen einen Organisator einer Anti-Corona-Demo aus Luxemburg in sein Youtube-Gesprächsformat „BasTV“ ein. Der anonymisierte Gast erklärte in einem inkohärenten Monolog, die PCR-Tests seien nicht zuverlässig, die Positivitätsrate werde nach oben hin gefälscht, das Influenzavirus sei tödlicher als das Coronavirus, der Impfstoff nicht getestet worden und die Maßnahmen seien übertrieben – die Regierung werfe „mit Atombomben auf Spatzen“.

In Verschwörungskreisen des Nordens zirkuliert aktuell überdies die Vorstellung, die Welt werde von einer Elite regiert, die sich vom Blut getöteter Kinder ernährt, wie es ein Appenzeller Chauffeur im Schweizer Blick erklärt. Wie Behrends Informanten in Westuganda in Bezug auf Kannibalismus verweist auch er auf angeblich Verschwundene, um seine Ansicht zu unterlegen: Jeden Tag würden 20 000 Kinder entführt, behauptet der Schweizer – und tatsächlich kann er auf ein Repertoire an realen Grausamkeiten zurückgreifen, mit dem sich diese Vorstellung unterfüttern lässt: Es gibt Kinderpornografie und Kindermord. Doch diese Verschwörungserzählung bleibt nicht bei realen Ereignissen stehen und recycelt unter anderem die alten antisemitistischen Anschuldigungen, wie die der jüdischen Ritualmorde. Juden wird vor allem seit dem Mittelalter unterstellt, Kinder zu töten, um deren Blut zu trinken. An diese Assoziation knüpft Q-Anon an, wenn sie Rotschild mit zur vermeintlichen Kinderschänderelite zählt, zugleich scheint sich das antisemitische Narrativ in Zeiten von Corona und Trump jedoch zu verlagern: Wo sich Tom Hanks und andere Hollywoodstars, Hillary Clinton und natürlich Bill Gates aufhalten, beschäftigt die Q-Anhänger derzeit Tag für Tag.

In der Nekrophagie kristallisieren Verschwörungsgläubige und Hexenjäger das exzessiv Perverse; sie kehren in politisch fragilen Zeiten gesunde menschliche Beziehungen in ihr Gegenteil um und tragen so ein Bild vor sich her, welches das absolut Anstößige vereint und die daran Glaubenden mobilisiert. Kannibalismus-Anschuldigungen als anthropologische Konstante zu betrachten, erlaubt es, sich einer möglichen Erklärung anzunähern, wofür die Behauptungen stehen – als Reaktion auf unstabile soziopolitische Verhältnisse, die die gesellschaftliche Solidarität gefährden. Hass und Gewalt können die Folgen sein. Stellt man die Figur des Kannibalen in einen transkulturellen Kontext, lassen sich Äquivalenzen festmachen, die Aufschluss über Gesellschaftsstress geben, wenngleich das Bild des Kannibalen in unterschiedlichen Regionen andere Intensitäten annimmt, andere Blindflecken füllen soll, sich über andere Kanäle verbreitet und andere Reaktionen hervorruft.

Der Q-Schamane, Jake Angeli, der am 6. Januar den Sturm auf das Kapitol in Washington anführte, war ebenfalls von den Kinderentführungen besessen. Seine Online-Aktivitäten drehten sich ständig um die vermeintliche Aufdeckung eines Pädophilen-Rings, wie der Gonzo-Philosoph und Emotionsforscher Jules Evans schreibt, der Angelis Facebook-Profil durchforstete, kurz bevor es gesperrt wurde. Er meint, es sei möglich, dass Angeli grausame Kindheitserfahrungen, also einen „inneren Terror“, in die Außenwelt hineinprojiziere. Womit er die Selbstjustiz von Angeli nicht rechtfertigen will, allerdings einen Hinweis liefert, was Verschwörungsideologien unter Umständen für hochengagierte Militanten auf der Mikroebene anziehend macht. Selbstjustiz wird übrigens auch im Kontext von „Hexenjagden“ ausgelebt. Behrend schreibt, vor ihrer Ankunft sei in Tooro eine Protestantin von Katholiken angezündet worden; die Frau überlebte mit schweren Verletzungen. Das anschließende Eingreifen der Justiz konnte diese „Kreuzzüge“ allerdings eindämmen.

Laut Jules Evans kann Jake Angeli überdies als Vertreter der Conspiritualisten angesehen werden. Mit dem den Begriff „conspirituality“ bezeichnet Evans Personen, die sowohl aus spirituellen Traditionen als auch aus Konspirations-Nnarrativen schöpfen: die Ying-Yang-Bilder mit Anti-Masken-Botschaften verknüpfen, Meditationsübungen verlinken, Panik vor Impfstoffen und zugleich Homöopathie-Werbung verbreiten. Jake Angeli missioniert seinerseits nicht nur für die Q-Anon-Ideologie, sondern behauptet zudem, er sei ein selbstinitiierter Schamane und habe als Heiler über hundert Leute begleitet.

Auffallend viele der Luxemburger Verschwörungsmultiplikatoren verbreiten in den Online-Netzwerken neben anti-etatistischem Gebrüll Fotos von Friedenstauben, Blumen, Tierbabys und Buddhas. Eine Lehrerin aus dem Westen Luxemburgs zeigt in ihrem Banner das Bild einer Frau in Meditationspose und teilte darunter ein Video mit dem Titel „Wir werden alle digitale Sklaven“ von Ernst Wolff, der sich sicher ist, die Weltgesundheitsorganisation plane einen „finanzfaschistischen Coup“. Ist diese Frau „böse“? Laut Petra Strobe (Forum, 12/2020) ist ein Anteil der Verschwörungsgläubigen lediglich auf die schiefe Bahn geraten: „Es trifft nicht auf grundsätzlich böse Menschen. Viele der Aktivisten wollen die Welt zum Besseren hin verändern, können es aber nicht, […] fühlen sich zunehmend kontrolliert, ferngesteuert und ohnmächtig […].“

Mittlerweile ist die Aids-Epidemie in Toroo abgeklungen, auch weil günstigere antiretrovirale Medikamente zugänglich wurden und die Bevölkerung sich von den Behandlungsmethoden überzeugte. Die Todesrate sank und mit ihr zugleich die Anzahl an Hexen und Kannibalen. Soziopolitische Spannungen glätteten sich und die kulturelle und psychosoziale Dynamik rund um die Menschenfresser minderte sich – so die Interpretation der Ethnologin. Hexenjäger wiederum führen diesen Wandel auf die von ihnen vollzogenen Heilrituale zurück. Diese bilden durchaus eine Strategie, um der Hexen-Angst Einhalt zu gebieten, da sie es ermöglichen, die des Kannibalismus Beschuldigten zu läutern und wieder sozial zu integrieren. Zusätzlich entschuldigt man die Hexen für ihr Verhalten: Nicht sie sind schuld, sondern die kannibalischen Geister, von denen sie besessen waren und die sie zu ihren abscheulichen Taten zwangen. Die Rituale verfestigen und bestätigen aber dabei den der Hexerei zugrunde liegenden Interpretationsmechanismus und tragen so letztlich zur Furcht vor dem bei, das sie zu bekämpfen vorgeben.

Auch Bill Gates wird seinen Schrecken für Verschwörungsgläubige womöglich erst mit dem Abklingen der Corona-Epidemie verlieren. Bis dahin kann man „Heilrituale“ einsetzen, um Bekannten entgegenzukommen, die in den Verschwörungsglauben hineinzurutschen drohen, indem man diejenigen ihrer Sorgen ernst nimmt, die berechtigt sind, wie beispielsweise coronabedingte Arbeitslosigkeit. Außerdem kann man sich für eine Politik einsetzen, die die soziale Schere in der Gesellschaft schließt. Und schließlich kommt das globalisierte Dorf wohl nicht daran vorbei, Lügen und Verschwörungsmythen in den sozialen Netzwerken verstärkt zu kontrollieren – und dadurch natürlich zeitweilig die bestehenden Verschwörungserzählungen zu bekräftigen. Auf lange Sicht aber kann nur dieser Weg des „social distancing“ vor der Infektiosität von Verschwörungsmythen schützen.

Die zitierten Beispiele aus den sozialen Netzwerken wurden bei der Autorin archiviert.

Stéphanie Majerus
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