Wintersport in der Schweiz

Ab auf die Piste

d'Lëtzebuerger Land vom 12.03.2021

„Alles fahrt Schi, alles fahrt Schi, d’Mamme, dr Bappe, dr Sohn“, trällerte der Schweizer Sänger Vico Torriani 1963 und besang damit, was der Historiker Simon Engel als „Schweizer Lebensgefühl und Nationalbewusstsein zugleich“ bezeichnet.

Und so fahren die Schweizerinnen und Schweizer auch im Corona-Winter 20/21 Ski, als gäbe es keine Covid-19-Pandemie. Zumindest wird die Lage auf diese Weise insbesondere im Ausland polemisiert. Nicht völlig zu Unrecht, wie man angesichts von Aufnahmen aus den Skigebieten in Graubünden, Wallis oder dem Berner Oberland einwerfen möchte. Fotos von langen Warteschlangen an den Talstationen der großen Walliser Wintersportdestinationen Zermatt und Verbier, aufgenommen auf dem Höhepunkt der zweiten Welle Anfang Dezember, gingen um die Welt. Die scheinbare Sorglosigkeit in den Schweizer Bergen sorgte vor allem im benachbarten Ausland für Entrüstung.

Kurz vor Weihnachten geriet Verbier international stärker in die Schlagzeilen. Nachdem bekannt geworden war, dass in Großbritannien die Virusmutation B1.1.7 aufgetreten war, hatte die Schweizer Landesregierung eine rückwirkende Quarantänepflicht für alle Britinnen und Briten verhängt, die seit dem 14. Dezember in die Schweiz eingereist waren. Die Feriengäste hätten die Feiertage somit im Hotelzimmer oder in einer Ferienwohnung verbringen müssen. Stattdessen setzten sich allein in Verbier mehr als 300 britische TouristInnen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ab.

Möglicherweise haben Schweizer Skiorte damit eine Schlüsselrolle in der Verbreitung dieses Mutanten in Europa gespielt. Jedenfalls wirft Walter Ricciardi, der Vertreter Italiens bei der Weltgesundheitsorganisation WHO, den nördlichen Nachbarn das vor. Ein Beispiel, das die These des Medizinprofessors von der Università Cattolica del Sacro Cuore in Rom stützt, ist der Fall einer Touristin, die das mutierte Virus Anfang Januar bei ihrer Rückkehr aus den Skiferien in den Schweizer Bergen nach Belgien eingeschleppt hatte. Im Großraum Antwerpen mussten anschließend zwei Schulen geschlossen und 5 000 Menschen in Quarantäne geschickt werden. Allerdings richtete sich die öffentliche Kritik in Belgien weniger an die Schweiz, sondern vielmehr gegen die Landsfrau – und die eigene Regierung.

Der helvetische Tourismus wurde jedoch weit über die geschilderten Fallbeispiele hinaus in ein negatives Licht gerückt. So etwa Mitte Januar in der Wintersportdestination Wengen im Berner Oberland. Nachdem im 1 100-Seelen-Dorf zwischen Mitte Dezember und dem 11. Januar über 60 Corona-Infektionen gemeldet wurden, musste die Lauberhorn-Abfahrt, die zu den prestigeträchtigsten Rennen im Ski-Alpin-Weltcup zählt, abgesagt werden. Neben einem beträchtlichen allgemeinen Imageschaden resultierten für viele beteiligte Akteure wie den Verband Swiss Ski oder das Schweizer Fernsehen teils erhebliche finanzielle Verluste.

Auch dem mondänen Graubündner Skiort St. Moritz bescherten Mitte Januar Infektionsherde unter den Angestellten der beiden Luxushotels Grand Hotel des Bains Kempinski und Badrutt’s Palace Negativschlagzeilen. Letzteres entschloss sich aufgrund der medialen Wirkung sogar, den Betrieb für den Rest der Wintersaison einzustellen.

Es bleibt schwer abzuschätzen, wie schwerwiegend und nachhaltig der Reputationsschaden für die jeweiligen Hotels, Wintersportdestinationen und den Schweizer Tourismus insgesamt sein wird. Doch für ein Land, dessen Außendarstellung nicht unwesentlich auf den Eckpfeilern «Sauberkeit, Ordnung, Sicherheit (SOS)» beruht, ist der Schaden bereits angerichtet.

Trotz dieser Vorkommnisse haben fast alle Skigebiete schweizweit auf die Hauptsaison im Februar hin geöffnet und empfangen Gäste – auch aus dem Ausland, sofern sie denn einreisen dürfen. Tatsächlich ist bislang, abgesehen von den erwähnten Fallbeispielen, die vor allem mediales Aufsehen erregt haben, noch kein größerer Infektionsherd in einem Skigebiet publik geworden. Darüber hinaus haben Wissenschaftler der Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa, die der ETH Zürich angehört, analysiert, dass das Risiko, sich bei den geltenden Sicherheitsbestimmungen in einer Gondel anzustecken, weitaus geringer ist als bei der Arbeit im Büro oder beim Abendessen in einem Restaurant.

Davon abgesehen sind gewisse Regionen im Berner Oberland, im Wallis und auch in Graubünden dermaßen wirtschaftlich abhängig vom Tourismus, dass sie auch ohne diese wissenschaftlichen Erkenntnisse bewusst Risiken eingehen. Gerade in den genannten Kantonen wiegt der Verlust der ausländischen Klientel aus Übersee schwer. Die finanziellen Einbußen suchen sie nun mit einheimischer und europäischer Kundschaft zumindest abzufedern.

Es zieht eben nicht nur die Schweizerinnen und Schweizer auf die Skipisten. Auch in Luxemburg wurde in manchem Haushalt wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass das Großherzogtum für eine kurze Zeitspanne in diesem Winter, in die praktischerweise auch die Karnevalsferien gefallen sind, nicht auf der Quarantäneliste des Bundes stand. Ab dem 8. März gilt Luxemburg indes wieder als Risikoland.

So profitiert die Schweiz unbestritten davon, dass die Skigebiete in Deutschland, Frankreich und Italien in der Hauptsaison geschlossen bleiben. Eine helvetische Singularität sind die offenen Pisten jedoch nicht. Auch die österreichischen Nachbarn lassen sich ihren Volkssport nicht nehmen. Ebenso sorgten in der östlichen Alpenrepublik Infektionsherde international für Aufsehen. Zwar ließ die österreichische Regierung im Gegensatz zur Schweiz die Skipisten de facto nur für die einheimischen Wintersportler öffnen. Findige Hoteliers und Touristikerinnen halfen ausländischen Gästen jedoch dabei, die Auflagen mit mehr oder weniger kreativen Mitteln zu umgehen. Die aktuell angespannte Lage im Tirol dürfte kein Zufall sein.

Ein Jahr nachdem Ischgl weltweit Schlagzeilen als Corona-Hotspot machte, pilgern europäische Touristinnen und Touristen, sofern es ihnen möglich ist, auch in diesem Winter wieder in die Alpen, diesen Sehnsuchts- und Wallfahrtsort des Eskapismus.

Charles Wey
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